Der Regler
ausgebildet hatte, waren über die Welt verstreut. Und Tretjak wusste nichts davon, was Dimitri auf die Speisekarte im Zug geschrieben hatte. Oder war der Kommissar so dumm gewesen, ihm das zu sagen? So schätzte er ihn nicht ein.
Dimitri Steiner griff jetzt zu seinem Telefon.
»Senatorservice. Was kann ich für Sie tun, Herr Steiner?«
»Ich brauche von Ihnen eine Auskunft. Mögen Sie bitte nachsehen, ob heute Morgen ein Herr Gabriel Tretjak von München nach Hamburg geflogen ist. Ich warte auf ihn, kann ihn nicht erreichen und bin etwas beunruhigt.«
»Einen Moment bitte, Herr Steiner.«
Eine hübsche junge Frau in einem kurzen schwarzen Lederrock ging durchs Lokal an Dimitris Tisch vorbei Richtung Toilette. Während er der Musik der Warteschleife zuhörte, schaute er ihr auf den Hintern, bis sie durch die Tür verschwunden war.
»Herr Steiner, hören Sie? Das stellt sich bei uns so dar: Herr Tretjak war für die LH 051 heute Morgen gebucht, hat den Flug aber nicht angetreten. Er hat auch keine andere unserer Maschinen benutzt. Ich hoffe, ich kann Ihnen mit dieser Auskunft helfen.«
Die Stimme des Mannes am Ende der Lufthansa-Leitung klang jung und gut geschult. Solche Sätze sagte er wahrscheinlich jeden Tag hundertmal. Aber für Dimitri Steiner war es der letzte Satz, den er in seinem Leben hörte. Denn in diesem Moment stand die junge Frau in dem Lederrock direkt neben seinem Tisch. Mit einer schnellen, fast unsichtbaren Bewegung stieß sie hinter ihrer Handtasche hervor ein stricknadelartiges Stilett direkt in Dimitris Herz. Sekunden später hatte sie das schöne Café Paris durch die offenstehende Glastür verlassen.
Dimitri Steiner blieb angelehnt an die Rückbank sitzen und blickte ins Lokal. Er blinzelte nicht mehr. Aber das fiel zunächst niemandem auf. Es dauerte noch gut 40 Minuten, bis die Hamburger Mordkommission das Café für diesen Tag zusperrte.
München, Polizeipräsidium, Vormittag
Die erste Nacht in einer Zelle. Zelle 226 im Münchner Polizeipräsidium. Kurz nach 21 Uhr hatte ihn der Beamte eingeschlossen. Bett, Stuhl, Toilette, Waschbecken. Nichts zu lesen, kein Handy, kein Computer, kein Fernseher, natürlich nicht. Um 22 Uhr war das Deckenlicht im Zimmer ausgegangen, das einzige Licht. Plötzlich war es dunkel gewesen. Tretjak hatte so viel studiert und nachgedacht über die Wirkung von plötzlicher, absoluter Stille auf Menschen. Wie ein Mensch reagiert, wenn er von einem Moment auf den anderen isoliert ist. Kommissar Maler hatte auf der Fahrt ins Präsidium kein einziges Wort mit ihm gesprochen. Als sie angekommen waren, hatte der Beamte schon auf ihn gewartet. Und Maler war einfach weg gewesen, kein Wort, keine Geste, nichts.
Es gibt Leute, die zerbrechen in der Isolation, schon nach wenigen Stunden. Sie erleben einen Crash der Nerven. Es trifft besonders die Menschen, die vorher viel Kraft aufgewendet haben, ihre Wirklichkeit unter Kontrolle zu halten. Gabriel Tretjak wusste, dass die Polizei auf diesen Effekt setzte. Und er wusste, dass ihm das nicht passieren würde, natürlich nicht. Hatte er nicht immer all seine Kraft dazu verwendet, die Dinge des Lebens zu regeln, und zwar im Sinne seiner Auftraggeber? Diesmal war er gewissermaßen selbst der Auftraggeber. Konnte irgendjemand glauben, dass er es nicht schaffen würde, den eigenen Auftrag auszuführen? Natürlich würde er ruhig bleiben, die Nerven behalten, natürlich würde er den Weg gehen, den er gewählt hatte, und sei das Ende noch so bitter. Er würde die Kontrolle behalten, vor allem über sich selbst. Genau das war seine Profession, genau das war seine Bestimmung.
Er spürte den Zweifel, wie kleine Stromstöße, deren Intensität immer stärker wurde. Es galt jetzt, dieser Unruhe zu widerstehen, dieser Angst. Die Tabletten, die das sonst so zuverlässig erledigten, hatte er nicht in der Zelle, er hatte seine Taschen leeren müssen, alles. Er musste den Schalter alleine finden, der die Angst ausknipste. Er spürte, wie seine Haut feucht wurde, es war der kalte Schweiß, der gefährliche Schweiß, wie es ihm ein Arzt einmal erklärt hatte. Er versuchte, die Atemtechnik des Kollegen von Treysa anzuwenden. Aber er merkte sofort, dass es diesmal nicht funktionierte. Die Angst war stärker.
Gabriel Tretjak schloss die Augen. Norbert Kufner, der in Bozen ermordete Professor, sein Lehrer, hatte ihm den Weg zur inneren Ruhe in Situationen der Isolation erklärt. Kufner hatte ihm davon bei einem ihrer
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