Der Regler
zwei Männer einen ganzen Tag lang beschäftigen. Früher hatte man Esel benutzt, um Lasten zu transportieren – und heute die kleinen zweirädrigen Traktoren, die für fast alles zu gebrauchen waren.
Die kleine Kirche Santo Stefano und der zugehörige Friedhof lagen oberhalb des Ortes Maccagno und waren nur über einen Fußweg zu erreichen. Bei guter Kondition konnte man zwanzig Minuten rechnen, bei weniger guter wurde daraus schnell eine Dreiviertelstunde. Im Sommer fanden Bestattungen entweder früh am Morgen oder spät am Nachmittag statt.
Die kleine Trauergemeinde, die sich hinter dem Traktor mit Paul Tretjaks Sarg versammelt hatte und sich jetzt langsam in Bewegung setzte, zerfiel in zwei Gruppen. Die kleinere Gruppe bestand aus den Einheimischen, zu erkennen an der Kleidung. Sie trugen leichte dunkle Hosen und darüber kurzärmelige dunkle Hemden. Die Leute, die von auswärts gekommen waren, steckten alle in zu warmen Sachen, in Anzügen und Kostümen, man sah Krawatten, sogar Hüte. Zu dieser Gruppe gehörte auch der Münchner Polizeibeamte Rainer Gritz.
Rainer Gritz war 33 Jahre alt, lang und dünn. Seinen Spitznamen »Kroko« hatte er nicht wegen seines Äußeren bekommen, sondern wegen seiner Beharrlichkeit, sich in Akten und Details eines Falles geradezu zu verbeißen. Wie Karrieren manchmal so laufen. Er war genau zu der Zeit in das Morddezernat in München eingetreten, als Hauptkommissar Maler nach seiner Herztransplantation gerade wieder anfing zu arbeiten. Langsam natürlich, behutsam, zunächst nur stundenweise, dann halbe Tage. Maler musste sich schonen, und die Polizei musste ihn schonen. Das wurde zur Aufgabe von Rainer Gritz. Langatmiges Recherchieren, lästiges Berichteschreiben, umfangreiches Durchforsten von Akten – diesen Teil der Arbeit übernahm der neue Kollege. Und so wurden sie ein interessantes Gespann, der Kommissar mit dem neuen Herzen, der Mann mit der Intuition und der Erfahrung, und der dünne lange Kerl, der sich zu einer Art Superassistent entwickelte, im Hintergrund Thesen überprüfte, Behördenanträge stellte, Beweismaterial zusammentrug und Zugtickets kaufte. Inzwischen war Maler längst wieder voll im Dienst, und von Schonung konnte keine Rede mehr sein. Aber diese Aufteilung der Arbeit war irgendwie geblieben.
Eigentlich hatten sie heute beide bei dieser Beerdigung sein wollen, einem mehr als ungewöhnlichen Fall gewissermaßen die letzte Ehre erweisen. Aber Maler war gestern Morgen von plötzlicher Übelkeit befallen worden, und schnell hatte man festgestellt, dass es sich um eine Abstoßungsreaktion auf das Herz handelte. Maler musste nach Großhadern in die Klinik. Es war keine schlimme Abstoßung, nur eine 1b. Rainer Gritz kannte sich inzwischen aus, und er wusste, solange eine 1 davorstand, war die Abstoßung noch nicht lebensgefährlich. So war er allein an den Lago Maggiore gefahren, über Lindau am Bodensee und den San-Bernardino-Pass.
Er hatte sich hinten bei den Einheimischen in den Trauerzug eingereiht und ertappte sich dabei, dass er daran dachte, dass er eines nicht allzu fernen Tages ganz vorn würde gehen müssen, bei der Beerdigung seiner Mutter oder seines Vaters. Er liebte seine Eltern und hasste den Gedanken. Hier ging der Pfarrer ganz vorn, direkt hinter dem wenig pietätvoll schnurrenden Traktor. Auch er angereist, ein Mann, den Gritz in diesem Fall schon vernommen hatte. Sein Name war Joseph Lichtinger. Er trug nur ein einfaches schwarzes Priestergewand und einen Holzstab mit einem schlichten Kreuz aus Messing an der Spitze. Gabriel Tretjak ging hinter dem Pfarrer. Der Regler, wie sie ihn im Präsidium genannt hatten, seit Gritz die Jedlitschka-Bäuerin vernommen und die Koffer mit dem Datenmaterial in der Gerätehalle des Hofes sichergestellt hatte. An Tretjaks Seite ging seine Freundin, die Finanzbeamtin Fiona Neustadt.
Kurz bevor der Weg in den schon herbstlich gefärbten Wald führte, kam eine schwierige Stelle, eine enge Spitzkehre, in der der Traktor hängen blieb und das ganze Gefährt ein paar Meter zurücksetzen musste. Schließlich legte Gabriel Tretjak sogar selbst Hand an und schob den Anhänger an, damit die Leiche seines Vaters um die Kurve kam. Sein Gesicht war vollkommen unbewegt.
Diesen Gesichtsausdruck hatten sie alle beschrieben, die Rainer Gritz vernommen hatte. Konzentriert, aber nicht beteiligt. Der Manager Peter Schwarz hatte gesagt, er habe den Mann ja nur einmal persönlich getroffen, in einem Hotel in Sri Lanka.
Weitere Kostenlose Bücher