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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
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da immer zu tun gehabt hatte.
    Lichtinger schraubte das Okular aus dem Teleskop und verstaute es in dem dafür vorgesehenen Kasten. Die Kuppel schloss sich und nahm die Sicht auf den Himmel. Er dachte an Tretjak, der jetzt in Untersuchungshaft war. Ob er schlafen konnte?
    Damals hatte Tretjak plötzlich bei ihm am Bett gesessen, in einer Hütte in Haiti. Seit Tagen hatte er in dieser Hütte gelegen, vollgepumpt mit einer Droge, die aus einem Pilz gewonnen wurde. Man träufelte sich den braunen Extrakt auf die Zunge und versank in einem Nebel, der es durchaus mit dem Überrest einer Supernova aufnehmen konnte. Ein großes Fest war in dem kleinen Ort zugange, mit Tänzen, rituellen Schlachtungen, Voodoo-Gesängen. Lichtinger wusste nicht, wie lange Tretjak bei ihm gesessen hatte, ehe er ihn überhaupt wahrnahm, und wie lange er danach noch sitzen bleiben musste, ehe er ihn erkannte.
    »Wie hast du mich gefunden?«
    »Pack deine Sachen.«
    Lichtinger sah, wie Tretjak dem Hüttenbesitzer Geld gab.
    Zwei Tage später waren sie in München gelandet. Tretjak brachte ihn zu einem kleinen Apartment im Olympiadorf, das er für ihn gemietet hatte.
    »Und?«, hatte er Lichtinger auf dem Weg dorthin im Taxi gefragt. »Bist du sie nun los, die bösen Geister?«
    Lichtinger hatte sich in dem Apartment nur kurz umgesehen und den Kopf geschüttelt. »Hier möchte ich nicht bleiben. Ich fahr nach Hause.«
    »Nach Hause?«, hatte Tretjak gefragt.
    »Aufs Land. Zu meinen Eltern«, hatte Lichtinger gesagt.
    »Ja, mach das. Die sind grau geworden vor Sorge.«
    Das wattierte Kuvert, das Tretjak ihm dann gegeben hatte, war immer noch dasselbe gewesen, und es war nicht geöffnet worden. Man konnte den Schlüssel tasten. Damals hatten sie die Schließfächer noch nicht automatisch irgendwann geräumt.
    »Das gehört uns, Sepp. Du musst darauf aufpassen.«
    Lichtinger erinnerte sich an diese Szene, als wäre sie gestern passiert. Sie hatte den Wendepunkt markiert. Von dort an waren ihre Wege auseinandergelaufen. Wenig später hatte Lichtinger schon Theologie studiert, und die Besuche seines Freundes waren immer seltener geworden. Ihre Debatten über die Manipulation von Wirklichkeit hatten ihren Reiz verloren. Über das Geld im Koffer hatten sie nie wieder gesprochen. Und jetzt, als er an diese Szene zurückdachte, versuchte er – so viele Jahre später –, noch einmal in Tretjaks Gesicht zu lesen, das er genau vor sich sah. Aber es gelang ihm nicht.
    Er holte ein kleines Fläschchen aus seiner Jackentasche hervor und knipste die rote Taschenlampe an. Die Flüssigkeit, die sich in dem Fläschchen befand, sah beinahe schwarz aus. Er hatte das Kaninchen vom Bauern Sigl gekauft. Es war ihm nicht schwergefallen, dem Tier die Kehle durchzuschneiden. Und das Blut war sofort abgeflossen, kein Problem. Er war nur überrascht gewesen, wie warm es war. Er öffnete das Fläschchen, sah sich in der Sternwarte um und ließ dann vorsichtig einzelne Tropfen des Blutes auf den Fußboden fallen, an verschiedenen Stellen, die er dafür ausgesucht hatte.

Teil 2 Die Entfremdung

1
    Es war ein warmer, fast heißer Septembertag, der hier zu Ende ging, und der Trauerzug mit Paul Tretjaks Sarg an der Spitze sah merkwürdig aus. Das lag vor allem an dem sonderbaren Gefährt, das den Sarg transportierte. Es handelte sich um einen winzigen zweirädrigen Traktor, der direkt vor einen kleinen Anhänger gespannt war. Auf der vorderen Kante der Ladefläche saß ein junger Mann, der mit Hilfe einer fahrradähnlichen Lenkstange den Traktor steuerte. Der schwarze Sarg ragte am Ende ein wenig über die zu kurze Ladefläche hinaus und war mit Gurten auf dem Anhänger festgezurrt. Als Schmuck dienten zwei schlichte, purpurrote Bänder. Auf ein Blumenbouquet hatte man verzichtet, vermutlich weil es nicht einfach gewesen wäre, es zu befestigen.
    Die Menschen, die in den Bergen um den Lago Maggiore lebten, waren daran gewöhnt, dass fast alles, was sie taten, beschwerlich war. So heiter und leicht sich das Leben unten am Wasser zeigte, mit den schmalen Strandabschnitten, den
Ristoranti
und Bootsverleihern, so anders war es, wenn man nur ein paar Meter die Hänge hinaufstieg. Viele Straßen und Wege waren nicht mit dem Auto befahrbar, zu schmal, zu steinig, zu steil. Ständig mussten sie ausgebessert, das nach ihnen greifende dornige Buschwerk zurückgeschnitten werden. Die Häuser standen im Berg wie kleine aufragende Felsen. Die Anlieferung eines neuen Herdes konnte hier

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