Der Regler
Yves-Montand-Films zu lesen,
Lohn der Angst.
Lichtinger hatte ständig auf eine Packung Lindt-Pralinen gestarrt, die neben seinem Bett auf dem Boden lag. Ein Geschenk seiner Mutter. Das kann nicht der Lohn sein, hatte er gedacht, immer wieder, wie eine defekte Platte, das kann nicht der Lohn für die Angst sein.
Der Überrest einer Supernova ist das, was übrig bleibt, wenn ein Stern stirbt. Der Tod eines Sterns ist eine ziemlich brutale Angelegenheit. Er wehrt sich gegen diesen Tod, bäumt sich auf, greift um sich, ein glühender Feuerball, der immer größer wird, weil ihm der Brennstoff ausgeht. Er verschlingt alles, was er kriegen kann in der Weite des Alls, aber es reicht nicht, am Ende stürzt er in sich zusammen, und in einer letzten gigantischen Explosion, einer Supernova, haucht er sein Leben aus, besser gesagt, er spuckt es aus, Materiefetzen und Staubwolken, die dann durch das schwarze Nichts geistern, schwach glimmend in Erinnerung an ihre lange strahlende Vergangenheit.
Es war ganz still in der Sternwarte, die Nacht roch schon stark nach Sommer. Lichtingers rechtes Auge schwebte über dem Okular, seine Hand hielt die kleine elektronische Steuereinheit, mit deren Hilfe er das Fernrohr leicht hin und her schwenkte, um den Kontrast des Bildes zu erhöhen.
Die Tage nach der Schlagzeile. Lichtinger hatte sein Zimmer praktisch nicht mehr verlassen, Herrn Schmidt hatte er gesagt, er sei krank. Ab und zu hatte er das kleine Kofferradio eingeschaltet. Das Attentat hatte das ganze Land in Aufregung versetzt. Er hatte immer sofort wieder abgeschaltet. Das Gefühl von Fieber. Noch heute die Erinnerung an den Geruch und das Muster der Bettdecke, unter der er sich verkrochen hatte. Tretjak war draußen in der Stadt, schlaflos, immer nervöser, tauchte beinahe stündlich in Lichtingers Zimmer auf, berichtete. Aber Lichtinger konnte nicht zuhören, stand wie unter Schock. Schließlich kam der Augenblick, in dem Tretjak den Koffer im Zimmer abstellte. Fünfzig Millionen, hatte er gesagt. Dollar. Die Russen haben bezahlt. Wenn sie schon denken, dass wir es waren, können sie uns auch bezahlen. Fünfzig Millionen, Sepp. Die gehören uns, hatte er gesagt. Du musst sie verstecken, Sepp.
Lichtinger dachte daran, dass in dem Koffer heute nicht mehr exakt fünfzig Millionen Dollar waren, und musste schmunzeln. 350 Dollar hatte er in seinem Untermietzimmer zurückgelassen für Herrn Schmidt. Und eine Notiz, dass er den Rest seiner Sachen verkaufen könne. Und 8000 Dollar hatte er eingesteckt, einfach so, in die Innentaschen seiner Lederjacke. Den Koffer hatte er am Hauptbahnhof in ein Schließfach gesperrt, den Schlüssel in der Post in ein wattiertes Kuvert gesteckt und an Tretjak adressiert. Dann war er mit dem Bus zum Flughafen gefahren. München-Riem damals noch, aus heutiger Sicht beinahe mitten in der Stadt gelegen. Der neue große Flughafen im Erdinger Moos war damals erst im Bau gewesen. Er nahm einen Flug nach Atlanta, USA , weil es den gerade gab, und von dort einen nach Venezuela.
Wenn Menschen lange Reisen machen, dann erzählen sie hinterher davon, sie zeigen Fotos, sie geben anderen Tipps, sie vergleichen ihre Erfahrungen. Von der langen Reise des Physikstudenten Joseph Lichtinger, die er an einem Novembertag vor über zwanzig Jahren angetreten hatte, gab es keinerlei Dokumente. Keine Briefe, keine Bilder, keine alten Tickets, keine Tagebuchaufzeichnungen. Und er hatte auch niemals mit irgendjemandem darüber gesprochen.
Die gefährlichen Klettersteige in den Anden von Peru, die noch gefährlicheren Drogenpartys in Kolumbien, die Jobs als Rauschgiftkurier, als Pfleger in einer Klinik, als Aufpasser in einem Bordell … nichts, so schien es ihm später, war ihm beschwerlich und risikoreich genug gewesen, um vor die Hunde zu gehen. Zweimal hatte er sich in einer Gefängniszelle wiedergefunden, das eine Mal in Lima, das andere Mal in Caracas. Jeder Tag, den er überstand, jeder Kilometer, den er zurücklegte, entfernte ihn immer weiter von dem Joseph Lichtinger aus Niederbayern, der er einmal gewesen war. Es existierten keine Beweise, dass dieses Jahr seines Lebens überhaupt stattgefunden hatte. Nur für das Ende der Reise gab es einen Zeugen. Vielleicht war dieser Zeuge der Mensch, den er am besten kannte oder kennen müsste, aber gerade jetzt, in der Nacht in der Sternwarte am Jedlitschka-Hof, entglitt er ihm völlig, und er hatte das ungute Gefühl, nicht die geringste Ahnung davon zu haben, mit wem er es
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