Der Regler
scheint gelöst zu sein.« Maler zögerte. »Aber irgendetwas daran beschäftigt mich weiter.«
»Das sollte es aber nicht. Ich mag meinen Beruf, weil es um klare Fragen geht: Funktioniert das Herz oder funktioniert es nicht? Ja oder nein. Alles, was dazwischen ist, kann ich nicht leiden. Daran sollten Sie sich auch halten. Man wird verrückt, wenn man sich von den klaren Fragen verabschiedet. Glauben Sie mir.«
Der Professor sah auf seine schwarze Armbanduhr, eine einfache Swatch, und verabschiedete sich. »Ich komme morgen wieder vorbei.«
August Maler blieb zurück in seinem Krankenzimmer. Er dachte: Warum habe ich dem Professor erzählt, dass ich zweifele, ob der Fall wirklich gelöst ist? Die Ermittlungen waren abgeschlossen, und zwar von ihm selbst. Stempel drauf, abgehakt. Er war nie jemand gewesen, der seine Aufgabe darin sah, sich zu viele Gedanken zu machen. Was also sollte das jetzt? Die klaren Fragen des Professors. Ist Paul Tretjak der Mörder? Ja oder nein? Die Beweise gaben eine klare Antwort. War der Fall gelöst, oder war er nicht gelöst? Ja oder nein?
Es dauerte eine Weile, bis sich Maler in seinem Bett aufsetzte. Und ziemlich laut, unpassend laut sagte: »Nein. Nein, ich glaube es nicht.«
Es klopfte an der Tür. Das Abendessen wurde gebracht, auf einem Tablett, zwei Semmeln, zwei Scheiben Wurst, zwei Scheiben Käse, Butter. Dazu Tee, Kräutertee. Er entschied, noch ein bisschen zu warten mit dem Essen.
Maler erinnerte sich an sein Treffen mit Paul Tretjak. Lago Maggiore, herrlicher Sonnenschein, ein Café direkt am See. Ein zunächst durchaus sympathisch wirkender Mann, der ihm erzählte von dem Drama mit seinem Sohn und sich als einer darstellte, der alles daransetzte, die Beziehung zu kitten. Paul Tretjak erklärte Maler, warum er seinen Sohn Gabriel für geeignet hielt, den Sohn von Charlotte Poland auf einen guten Weg zu bringen. »Herr Kommissar«, hatte der alte Tretjak gesagt, »mein Sohn hat das Verständnis für diesen Lars, und er besitzt die Brutalität, ihm zu erklären, was nun wirklich zu tun ist.«
Maler war nach Italien gefahren, viereinhalb Stunden, um zu erfahren, was vor zehn Jahren passiert war und warum Paul Tretjak seinem Sohn Gabriel Tretjak diese Frage hatte ausrichten lassen. Eigentlich hätte ihm die Veränderung sofort auffallen müssen, denn als er ihm die Frage stellte, war bei Vater Tretjak plötzlich nichts mehr zu spüren gewesen von der Weichheit und Freundlichkeit zuvor. Paul Tretjak begann von seinem anderen Sohn zu sprechen, einem Halbbruder Gabriels, ein paar Jahre älter. Luca, sagte Tretjak, war sein Name, seine Mutter war Italienerin gewesen, lebte schon lange nicht mehr. Und vor zehn Jahren, an diesem 11. Mai, hatte es ein Treffen zwischen den beiden Söhnen gegeben. Soweit Tretjak Senior wusste, hatte es im
Blauen Mondschein
in Bozen stattgefunden, dem Hotel, das er einst geleitet hatte.
»Das ist passiert vor zehn Jahren, Herr Kommissar«, sagte Paul Tretjak.
»Und?«, fragte Maler, »und dann?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Tretjak. »Gabriel leugnet, dass es dieses Treffen je gegeben hat. Er sagt, er habe Luca seit mehr als dreißig Jahre nicht gesehen.«
»Und was sagt Luca?«
»Gar nichts«, Herr Kommissar, »Luca ist seit diesem Tag verschwunden. Kein Mensch hat ihn je wieder gesehen.«
»Haben Sie damals die Polizei benachrichtigt?«
»Es gab Ermittlungen, aber die wurden eingestellt. Es würden immer wieder Menschen mal verschwinden. Das sei nicht verboten, hieß es. Herr Kommissar, ich bin davon überzeugt, dass mein Sohn nicht mehr am Leben ist.«
»Darf ich fragen, was Luca damals wollte von Gabriel? Wissen Sie das?«
»Es ging um mich«, sagte Paul Tretjak, »er wollte vermitteln. Er wollte die Familie wieder zusammenbringen.«
»Ich verstehe immer weniger, Herr Tretjak«, sagte Maler. »Sie verdächtigen Ihren Sohn, den anderen Sohn getötet zu haben. Wollen aber andererseits Gabriel dazu bewegen, den Sohn einer Freundin zu retten. Wie passt das zusammen?«
Es hatte auf diese Frage keine vernünftige Antwort gegeben vom alten Tretjak. Aber kurz vor Malers Abfahrt zurück nach München, hatte er noch eine kryptische Bemerkung gemacht. Wenn Maler die Sache mit seinem anderen Sohn aufklären wolle, müsse er nach Südtirol fahren. Nach Jenesien, das kleine Bergdorf hoch über Bozen. »Fragen Sie dort nach dem Mann, der bei den Adlern lebt. Das ist eine interessante Spur für Sie, Herr Kommissar«, hatte Tretjak gesagt.
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