Der Regler
die Vergangenheit zu korrigieren, sondern der Vergangenheit einen prunkvollen Auftritt zu bereiten. Es war irrsinnig, dass er diese Mail geschickt hatte. Wollte er jemals wieder arbeiten? Konnte er? War nicht eigentlich völlig klar, dass es vorbei war? Dass der Regler nicht mehr regeln konnte? Es war zu viel passiert, kein Stein lag mehr auf dem anderen in seinem Leben, dachte er. Andererseits: Konnte man in einem solchen Beruf überhaupt je aufhören? Er musste an Dimitri Steiner denken, an dessen Ende. Wird bei Leuten wie uns, dachte Tretjak, am Ende immer die Abschlussrechnung präsentiert? Es waren solche Gedanken, die ihn verrückt machten, er konnte sie einfach nicht bremsen.
Tretjak war in der Buttermelcherstraße angekommen. Noch sieben Minuten, bis es halb war. Er stand vor einem Laden für Ledermoden, im Schaufenster lagerten hauptsächlich Ketten und Halsbänder mit Stacheln dran, dazwischen nackte männliche Schaufensterpuppen mit Peitschen in der Hand. Für einen Augenblick wechselten seine Gedanken zu einem anderen Thema: Er kannte ein paar Homosexuelle, alles auffallend höfliche und sensible Menschen. Wie passte das zu den Peitschen? Bekam er da irgendwas nicht richtig mit?
Es war einer dieser wunderbaren Herbsttage, die München wie keine andere Stadt zum Leuchten brachten. Die nächste Gedankenkette begann: Würde er München vermissen? Wie würde es sein, wenn er irgendwann wieder zurückkäme in diese Stadt, würde er sich fühlen wie in einem alten Film, der ohne ihn weitergelaufen war? Tretjak gefielen Fionas Pläne, zusammen wegzugehen, zum Beispiel nach Brasilien, gut fürs Leben, oder nach Moskau, gut fürs Geschäft. Er mochte ihre Begeisterung, ihre Kraft, die ihn begann mitzuziehen.
Stefan Treysa hatte Kaffee gekocht, und auf dem Tisch wartete ein Teller mit Butterbrezen. Treysa war wie immer allein in seinem Büro, außer seinem Papagei natürlich, der sich rasch mit lauten »Wau«-Rufen bemerkbar machte. Sie saßen sich auf zwei Bürostühlen gegenüber, dazwischen das Tischchen mit den Brezen. Tretjak fand, dass sein Freund noch ein wenig kleiner, noch ein wenig dünner als sonst wirkte.
Treysa begann mit einer kleinen Einführung über die Rolle eines Therapeuten. Es sei im Grunde nicht möglich, einen Menschen zu therapieren, den man sehr gut kenne, jemanden aus der Familie oder einen Freund. Ein Therapeut müsse immer in der Lage sein, Abstand zu halten, einen Standpunkt von außen einzunehmen, um wirksam eingreifen zu können. Ein Therapeut dürfe nie Teil eines Systems sein, über das er urteile. Treysa schmunzelte. »Also gut, versuchen wir das Unmögliche«, sagte er. »Wir haben 45 Minuten Zeit. Ich würde vorschlagen, die nächste Stunde ist morgen. Das weitere Vorgehen besprechen wir dann.«
Tretjak nickte.
»Ich frage dich, was ich immer als Erstes frage: Warum bist du hier?«
»Mir geht es schlecht. Richtig schlecht. Ich kann nicht schlafen. Ich habe Angst. Ich nehme keine Tabletten mehr. Du wirst vielleicht sagen, das ist eine gute Nachricht, aber es ist keine gute Nachricht. Hört sich bescheuert an, aber mit diesen Tabletten hatte ich das Gefühl, noch eine gewisse Kontrolle zu haben. Doch dann habe ich gespürt, genau dieser Versuch, die Kontrolle zu haben, macht alles noch schlimmer. Ich fühle mich vollkommen hilflos, ich glaube zum ersten Mal in meinem Leben.«
»Das glaube ich nicht. Du hast die Hilflosigkeit nur aus deinem Leben verbannt. Und jetzt kommt sie zurück.«
Tretjak schwieg.
»Gabriel, ich fasse mal zusammen, was in den letzten Monaten passiert ist. Es gab mehrere Morde, grausame Morde. Bekannte, gute Bekannte von dir wurden umgebracht. Und deine Putzfrau. Eine arme, alte Frau. Und wer hat es getan? Dein Vater. Lass mich das wiederholen: Dein Vater hat diese Morde begangen, dein Vater, zu dem du immer ein gestörtes Verhältnis hattest.«
»Ich weiß, was passiert ist. Du musst es mir nicht noch einmal erzählen.«
»Doch, das muss ich. Denn ich sage es aus einem bestimmten Grund. Ein Mann, dem solcher Horror widerfahren ist, soll nicht in einer Krise sein? Ein Mann, der das erlebt hat, dem soll nicht der Boden unter den Füßen wackeln? Lass es mich einfach so sagen: Wenn es jemals einen Menschen gegeben hat, der das Recht hat, in einer Krise zu stecken, dann bist du es.« Treysa trank einen Schluck Kaffee und sagte: »Kann es sein, dass du diese Tatsache einmal zur Kenntnis nehmen solltest, bevor wir über alles andere
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