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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
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sprechen?«
    »Nein«, sagte Tretjak.
    »Was, nein?«
    »Du kennst mich, Stefan. Ich habe eine Lebensphilosophie, der ich alles andere unterordne. Ich lebe nach dieser Philosophie. Du kannst es Korsett nennen, mir egal. Ein wichtiger Pfeiler dieser Philosophie lautet: Ich schneide mein Leben immer nach hinten ab. Alles, was vorbei ist, ist vorbei. Spielt keine Rolle mehr. Nichts, was ganz früher war, nichts, was vor einigen Jahren war, und auch nichts, was vorgestern war. Das ist mein Prinzip.«
    »Ja, ich weiß«, sagte Treysa. »Es gab Momente, da hattest du mich beinahe überzeugt. Ein Leben ohne Vergangenheit? Das ist eine echte Herausforderung für einen Psychologen.«
    »Aber ausgerechnet jetzt funktioniert es nicht«, sagte Tretjak, »ausgerechnet jetzt, wo es funktionieren müsste. Alles spricht dafür, denn alles Schreckliche liegt in der Vergangenheit. Die Morde, mein Vater, alles. Du weißt, dass ich ausgebildet bin in der Technik, die Vergangenheit zu löschen. Ich habe alles versucht, nichts funktioniert. Alles kommt hoch, ich habe das Gefühl, ich bestehe nur noch aus Vergangenheit. Ich träume plötzlich, du kannst dir nicht vorstellen, was ich alles träume.«
    »Erzähl mal einen Traum.«
    »Einer kommt im Moment jede Nacht. Ich bin ein kleiner Junge, vielleicht zehn Jahre alt, und gehe an der Hand eines älteren Mannes über eine Wiese, auf eine Waldlichtung zu. Da sagt der Mann zu mir, siehst du den Vogel da, den großen Vogel da. Und tatsächlich sehe ich einen großen Vogel auf der Wiese hüpfen, eine Krähe, schwarz, so groß wie ein Mensch. Ich will zu ihr hinlaufen. Nein, sagt der Mann, ich meine nicht den kleinen Vogel, ich meine den großen, den ganz großen Vogel. Schau nur genau hin! Und dann sehe ich ihn. Es ist gar keine Waldlichtung vor uns, sondern das alles ist der riesige Vogel, ein Adler so groß wie hundert Bäume. Ich spüre, wie mir die Luft wegbleibt, vor Aufregung. Und dann wache ich auf und bin vollkommen schweißgebadet.«
    »Interessanter Traum«, sagte Treysa.
    Tretjak nahm sich eine Breze und sagte: »Was soll das? Was bitte ist die Botschaft?«
    »Spontan würde ich sagen: Der kleine Junge, der kleine Gabriel, durfte nicht Kind sein. Er sieht nur den kleinen, nicht den großen Vogel. Jedenfalls meldet sich mit diesem Traum deine Kindheit.« Treysa griff sich auch eine Breze. »Erinnerst du dich an den armen Professor Kerkhoff und seine These von der Seelenfabrik?«
    »Ja«, antwortete Tretjak, »daran erinnere ich mich gut. Ich muss sehr oft daran denken.« Und es erschienen Bilder vor Tretjaks geistigem Auge, in kurzen Schnitten. Das hochmütige Gesicht von Harry Kerkhoff. Die merkwürdige Nachricht über das Rennpferd in dem Hotelrestaurant in Sri Lanka. Dann die Nachricht vom Mord an Kerkhoff. So hatte alles angefangen, der ganze Albtraum. »Ja«, wiederholte er, »ich muss oft an Harry denken.«
    Treysa fasste Kerkhoffs Theorie noch einmal zusammen. Kerkhoff war Biochemiker und Hirnforscher, kein Freund der Psychologie. »Wenn man schon mit diesem merkwürdigen Begriff Seele arbeitet«, hatte er immer formuliert, »dann muss man sich die Seele als eine Fabrik vorstellen.« Und er hatte eine Fabrik gemeint mit riesigen Maschinen, die alle unterschiedlichste Dinge verrichten. Die Maschinen verarbeiten, verdrängen, planen, und wenn es dem Menschen gutgeht, dann laufen die Maschinen rund. Dann soll bloß niemand auf die Idee kommen, die Maschinen anzuhalten oder sie in Frage zu stellen. Kerkhoffs Überzeugung war es, dass man am besten alles so belassen sollte, wie es war. Nur wenn es dem Menschen schlecht ging, dann war der Zeitpunkt, zu dem man hineinmusste in den Maschinenraum und nachsehen, was defekt war.
    Tretjak konnte Kerkhoffs Theorie wie ein Automat zu Ende formulieren: Solange alles gut lief, musste man die Maschinen aber dennoch ölen und füttern. »Zu mir hat er immer gesagt, du blendest die Vergangenheit aus, okay, aber dann musst du deiner Seele genügend anderen Stoff geben. Du musst zum Beispiel größenwahnsinnig sein …«
    »Das war Kerkhoffs eigene Methode …«, sagte Treysa und musste lachen.
    »Ja, Größenwahn war sein Ding. Und auf eine Art vielleicht auch meins. Kerkhoff hat zu mir gesagt, du musst erfolgreich sein, sehr erfolgreich, du musst fleißig sein, du musst dir eine eigene Erlebniswelt schaffen. Du darfst deiner Seele keine Zeit lassen, sich auch nur kurz umzudrehen.« Tretjak machte eine Pause. »Jetzt hat sie sich anscheinend

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