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Der reiche Mann

Der reiche Mann

Titel: Der reiche Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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die Austern, und er erriet, was das bedeutete.
    »Haben Sie noch nie Austern geöffnet?«
    »Nein.«
    »Ich werde es Ihnen zeigen.«
    Im Schubfach lag ein Austernmesser. Er ging geschickt damit um.
    »Haben Sie’s gesehen?«
    »Ja. Ich habe Angst.«
    »Wovor?«
    »Daß ich mich schneide.«
    »Versuchen Sie’s.«
    Sie hielt das Messer schlecht, und er legte ihre Hand auf den Griff.
    »Und jetzt gleiten Sie hier mit der Klinge entlang.«
    Es gelang ihr nicht auf Anhieb, aber nach zehn Versuchen hatte sie den Bogen heraus und sah ihren Herrn dankbar an.
    Es war das erste Zeichen, das er von ihr bekam. Am Tag zuvor hatte sie ihn kaum angesehen. Was dachte sie von ihm? Daß er wie Paquôt, wie alle Männer war und eines Tages von ihr das fordern würde, was er als ihm zukommend betrachtete?
    Er schwor sich, sie nicht anzurühren. Sie war auch zu jung und zu mager. Er ging ins Büro.
    »Ich habe Austern zum Mittagessen mitgebracht.«
    »Es gibt schon…«
    »Ich weiß: Kalbsragout.«
    »Wer wird sie öffnen?«
    Das war etwas, das sie noch nie fertiggebracht hatte. Es graute ihr vor Messern.
    »Alice.«
    »Glaubst du, daß sie es können wird?«
    »Ich habe es ihr gezeigt. Sie macht es ganz gut.«
    »Brauchst du heute nachmittag den Wagen?«
    »Nein. Ich bringe die Muscheln im Lastwagen zum Bahnhof.«
    »Nimm deinen Schlüssel mit, falls du vor uns zurückkommen solltest. Ich fahre mit Alice in die Stadt, um für sie Wäsche und ein paar Kleidungsstücke zu kaufen. Sie besitzt sozusagen nur das, was sie auf dem Leib hat.«
    »Glaubst du, daß sie’s schaffen wird?«
    »Sie ist voll guten Willens. Wenn sie sich erst einmal an das Haus gewöhnt hat…«
    Sie aßen etwas später als sonst zu Mittag, weil es seine Zeit brauchte, so viele Austern zu öffnen. Lecoin aß sechs Dutzend, was ihn aber nicht daran hinderte, auch dem Kalbsragout reichlich zuzusprechen.
    Seine Frau ging bald hinauf, um sich anzuziehen, während er sich eine Zigarette drehte und dabei den Kaffee trank, den Alice ihm gebracht hatte. Er sah sie von der Küche ins Eßzimmer und 1 vom Eßzimmer in die Küche gehen, und sein Blick fiel immer wieder auf ihre langen, mageren, nackten Beine. Am linken Schienbein hatte sie einen blauen Fleck.
    Er hätte sich gern mit ihr unterhalten, aber sie mußte erst ihre Hemmungen überwinden nach ihrem Erlebnis in Surgères.
    »Haben Sie schon mal Austern gegessen?«
    »Nein, noch nie.«
    »Sind noch welche in der Küche?«
    »Ja.«
    »Probieren Sie sie mal.«
    »Sie sind so komisch glitschig.«
    »Sie werden sich daran gewöhnen. Kommen Sie, ich werde Ihnen zeigen, wie man sie aus der Schale löst.«
    Er zeigte es ihr und reichte ihr die Auster. Sie zögerte, blickte ihn beklommen an und schluckte die Auster schließlich hinunter.
    »Nun?«
    »Nicht schlecht.«
    »Essen Sie, soviel Sie können. Das gibt Ihnen Kräfte.«
    Er lächelte sie an. Es kam selten vor, daß man ihn lächeln sah. Wenn er angeheitert war wie am Tag zuvor, lachte er manchmal, aber es war ein zu sonores, künstliches Lachen. Er mußte so tun, als ob er sich amüsiere. Vielleicht versuchte er sogar, es sich selbst einzureden.
    Jeanne kam im schwarzen Kleid herunter und trug den ebenfalls schwarzen Mantel überm Arm.
    »Mach schnell, Alice. Wir fahren beide in die Stadt.«
    Sie hörte auf, Austern zu essen, und Jeanne blickte ihren Mann an, als erriete sie die Szene, die sich gerade abgespielt hatte. Sie nahm es ihm nicht übel. Peinlich war nur, daß sie immer alles wußte.
    »Hast du Besorgungen zu machen?« fragte sie.
    »Ich muß nur zum Bahnhof.«
    Die Pendeluhr im Salon schlug zwei, und Lecoin ging in die Garage, wo der Taubstumme gerade mit dem Waschen der Muscheln fertig war. Man wußte nie, wann er aß. Er war immer zur Stelle und wollte nicht, daß man seine Hütte betrat.
    Nachdem die Körbe aufgeladen und mit den entsprechenden Zetteln versehen waren, schwang er sich auf seinen Sitz in der Fahrerkabine, und Lecoin ließ den Motor an.
    Sie fuhren durch Nieul und kamen an der Schule vorüber, in der Jeanne Lehrerin gewesen war. Wie weit lag das zurück! Wie viele Jungen und Mädchen hatte sie nacheinander unterrichtet, die jetzt schon Väter und Mütter waren!
    Wie am Tag zuvor füllte er die Formulare aus und half dann Doudou, die Körbe zur Waage zu tragen.
    An der Kasse zog er wieder seine alte Brieftasche heraus. Es war noch nicht ganz vier Uhr. Die Flut hatte bereits eingesetzt, und die größten Schiffe würden bald in den Hafen

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