Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der reiche Mann

Der reiche Mann

Titel: Der reiche Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
verhaften, und er würde vielleicht zwei Jahre im Gefängnis sitzen.
    »Ich bin nicht nur ein Mann. Ich bin ein verliebter Mann!«
    Er erhob sich schwerfällig und ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
    »Geben Sie mir die Hand.«
    Sie zögerte, tat es dann aber doch.
    »Sind wir Freunde?« Sie nickte nur flüchtig.
    »Bis nachher. Ich werde an den Muschelbänken arbeiten.« Draußen lud Doudou die leeren Körbe in einen der beiden Lastwagen, und Lecoin setzte sich ans Steuer.

 
    5
     
     
     
    Er sah das bunte Treiben an den Muschelbänken, aber so verbissen er auch arbeitete, Alice klebte ihm gleichsam am Körper. Er konnte an nichts anderes denken.
    Ihre Intimität in der Nacht, wenn man überhaupt von Intimität sprechen konnte, hatte ihn nicht geheilt. Ganz im Gegenteil. Ein Gefühl des Unbefriedigtseins war in ihm zurückgeblieben. Er wollte mehr. Aber er wußte nicht, was eigentlich.
    Ein völliges Einswerden, etwas, das er noch nie erlebt hatte, weder mit Jeanne noch mit irgendeiner anderen Frau.
    Fast unausgesetzt dachte er an Alice. Jetzt macht sie das Schlafzimmer, sagte er sich.
    Und er wäre gern dort gewesen, hätte ihr zugesehen, sie bei ihrer Arbeit beobachtet. Hin und wieder hätte sie ihn dann vertrauensvoll anblicken müssen wie eine Mitverschwörerin.
    Er wurde sich plötzlich bewußt, daß er immer einsam gewesen war. Jeanne lebte mit ihm zusammen, arbeitete mit ihm zusammen, war eine Partnerin. Er konnte sie nicht einmal als Kameradin bezeichnen. Im Gegenteil, er hatte es ihr immer ein wenig verübelt, daß sie seine Gedanken erriet. Im Grunde war sie für ihn die Lehrerin geblieben. Und er warf ihr sogar ihre Nachsicht vor. Er hätte sich gern einmal richtig mit ihr gezankt und ihr alles ins Gesicht geschrien, was er auf dem Herzen hatte.
    Aber warum Alice? Warum dieses Mädchen, das im Haus lebte, als gehöre es gar nicht dazu, und sogar in seinen Armen kühl und gleichgültig blieb?
    Was dachte sie von ihm? Dachte sie überhaupt? War sie intelligent? Er wußte nichts von ihr, obwohl er gern alles gewußt, sie wirklich besessen hätte. Nur eins sein, sie und er.
    Er war fünfundvierzig Jahre alt geworden, ohne daß ihm ein solcher Gedanke auch nur einmal gekommen wäre, und er hätte sich über jeden mokiert, der sich so benahm wie er jetzt.
    Er überlegte, was er sagen würde, wenn er zurückkam. Er hatte ihr so vieles zu sagen! Er war sicher, sie täuschte sich in ihm. Sie betrachtete ihn als einen Mann wie alle anderen, der sich nur mit ihr vergnügen wollte.
    Aber das stimmte nicht. Er liebte sie. Dieses Wort, das sonst nicht in sein Vokabular gehörte, genügte, um ihn dunkelrot werden zu lassen.
    Er wollte sie nicht verlieren. Er wollte vor allem nicht, daß sie fortging. Was würde er dann tun? Er brächte es fertig, ihr nachzulaufen, wohin sie auch ging. Er brächte es fertig…
    Er wollte lieber nicht zu weit in die Zukunft blicken. Sie würde nicht gehen. Er würde sie festhalten. Sie würde verstehen.
    Das Wasser bedeckte noch einen Teil der Muschelbänke, darunter auch die seinen, und er konnte kaum dreißig Körbe in den Lastwagen laden.
    Er hatte das Gefühl, als sähen ihn alle an, die einen mitleidig, die anderen ironisch. Man hätte so etwas bei ihm nicht erwartet. Man hatte ihn immer für einen Menschen gehalten, der sich selbst genügte, einen Einzelgänger, der für seine Umgebung nur Verachtung hegte.
    Nun, jetzt merkten sie, daß das nicht stimmte, daß er ebenso verletzlich war wie die anderen.
    Wie hatte sein Vater fast vierzig Jahre ohne seine Frau leben können? Er hatte praktisch mit niemandem Kontakt, außer mit Daniel und seiner Frau. Selbst bei Tisch – er nahm die Mahlzeiten mit ihnen ein – machte er den Mund nicht auf.
    Er tat Tag für Tag seine Pflicht, blickte dabei wie abwesend vor sich hin und hatte sich nie jemandem anvertraut.
    Lecoin fuhr nach Charron, wo er nur einige Körbe erntete, und es war ihm, als ob auch dort alle ihn beobachteten.
    Fast wäre er nach Hause gefahren, ohne bei Mimile einzukehren, aber er wollte mit der Tradition nicht brechen. Doudou folgte ihm wie immer, und ihm schien, der Taubstumme blickte ihn anders an als sonst.
    Während Mimile ihm seinen Schoppen brachte, sagte Theo ungeniert: »Deine Frau ist wohl fort?«
    Jemand hatte sie gewiß beide auf dem Bahnhof in La Rochelle gesehen.
    »Du bist jetzt frei und ungebunden, kannst dir eine schöne Zeit machen.«
    Alle blickten ihn an, belustigt und verlegen zugleich. Alle

Weitere Kostenlose Bücher