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Der reiche Mann

Der reiche Mann

Titel: Der reiche Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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müssen. Ich werde mit dem Wagen morgens in aller Frühe abfahren und am Abend wieder hier sein.«
    Sie zeigte weder Freude noch Besorgnis.
    »Hat Madame nichts gesagt?«
    »Worüber?«
    »Daß wir allein im Haus sind.«
    »Das beunruhigt sie nicht. Sie ist, wie ich dir schon gesagt habe, nicht eifersüchtig.« Er klopfte sie liebevoll auf den Hintern, während sie ihm servierte, und sie ließ es geschehen.
    Aber trotzdem dachte er an die mehr oder weniger bevorstehende Rückkehr Jeannes. Gewiß, sie war nicht eifersüchtig, aber würde er es wagen, wenn sie wieder da war, zu Alice in den zweiten Stock hinaufzugehen?
    Er würde sich verstecken müssen, würde nur an dem Nachmittag hinaufgehen können, wenn sie Besorgungen in La Rochelle machte.
    Nachdem die Muscheln gewaschen und in den Lastwagen verladen waren, begleitete ihn Doudou zum Bahnhof. Sie erledigten die üblichen Formalitäten. Lecoin hätte fast vor Nenettes Bar angehalten, nicht aus denselben Gründen wie sonst, sondern im Gegenteil, um ihr triumphierend zu verkünden, daß er keine Mädchen mehr brauche.
    Triumphierend? Er wollte sich das einreden. Er mußte sich immer wieder wiederholen, daß er glücklich war, obwohl er in seinem Leben noch nie so unruhig gewesen war.
    Er wollte sie nicht verlieren. Er wollte nicht, daß man ihm diese Liebe stahl, auch wenn sie noch so armselig war.
    Er hielt bei Mimile zu der Zeit, da die Manille-Spieler dort versammelt waren. Dr. Bourseau war da. Wie immer hatte er ein wenig gerötete Augen. In seinem rötlichen Bart waren schon weiße Fäden. Wie alt mochte er sein? Victor war es, als hätte er ihn nie anders gekannt, als er ihn jetzt sah. Schon als er noch ein Kind war, harte der Arzt ihn und auch seine Mutter behandelt.
    Damals trank er noch nicht, und man sah ihn selten bei Mimile Karten spielen. Seine Praxis erstreckte sich über drei Dörfer, Nieul, Marsilly und Esnandes, und in mancher Woche wurde er fast jede Nacht wegen einer Entbindung geweckt. Vor fünf oder sechs Jahren hatte er seine Frau verloren und war mit einer Wirtschafterin allein geblieben, die jetzt schon über fünfzig sein mußte. Sie war immer in ihn verliebt gewesen und schlief nun im Ehebett.
    Er trank viel zuviel. Manche hatten kein Vertrauen mehr zu ihm und ließen sich in La Rochelle behandeln, weil seine Hände zitterten. Meistens hatte er eine ausgegangene Zigarette zwischen den Lippen.
    »Was gibt’s Neues, Victor?«
    »Nichts. Meine Frau ist in Cholet.«
    »Ich habe gerade davon gehört. Ihre Schwester soll im Sterben liegen.«
    »Sie hat mich heute mittag angerufen. Man erwartet jeden Augenblick das Ende.«
    »Krebs, wie?«
    »Ja.«
    »Wirst du allein fertig?«
    »Ja.«
    Er erwähnte Alice nicht, aber der Arzt dachte sich gewiß sein Teil. Als er nach Hause kam, war Alice damit beschäftigt, einen zu langen Kittel zu kürzen.
    »Hast du dich nicht gelangweilt?«
    »Warum sollte ich mich langweilen?«
    »Hast du ein wenig an mich gedacht?«
    »Ich weiß nicht. Ich habe gearbeitet.«
    »Wollen wir nicht beide hinaufgehen?«
    »Jetzt nicht. Ich muß auf das Essen aufpassen.«
    Es war immerhin ein Fortschritt. Sie sprach nicht mehr so einsilbig wie im Anfang, sondern sagte richtige Sätze und blickte ihn dabei ruhig, ohne Verlegenheit und Angst an.
    »Ich will nur meine Stiefel und meinen Pullover ausziehen, dann komme ich wieder«, sagte er.
    Er hatte drei gebratene Heringe gegessen, als das Telefon läutete. Es war wieder Jeanne. Ihre Stimme klang noch gedämpfter als am Mittag.
    »Sie ist tot, Victor. Im Grunde bin ich froh für sie, denn sie hat schrecklich gelitten und betete immer wieder, daß sie so schnell wie möglich erlöst werde.«
    »Warst du bei ihr?«
    »Ja. Zum Glück war Bernard nicht dabei. Wir hatten erreicht, daß er sich zu Hause kurz ausruhte, denn er war völlig fertig.«
    »Hat sie nichts gesagt?«
    »Sie bewegte die Lippen, aber es kam kein Laut aus ihrem Mund. Seltsamerweise hat sie, obwohl beide Töchter da waren, nicht deren, sondern meine Hand ergriffen, und es war, als ob sie sich an sie klammern wollte.
    Die Beerdigung findet am Donnerstag um zehn Uhr statt. Kommst du?«
    »Natürlich.«
    »Ich werde wahrscheinlich mit dir zurückfahren.«
    »Ich komme mit dem Wagen.«
    »Ich sage dir jetzt gute Nacht, denn ich habe nicht die Kraft, lange zu sprechen. Hortense war meine Lieblingsschwester.«
    Für ihn war das alles fern und fast unwirklich. Er dachte nur daran, daß er nur noch drei Tage mit Alice allein

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