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Der reiche Mann

Der reiche Mann

Titel: Der reiche Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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daß wir eine schöne Handschrift hatten.
    Sie wollten auch, daß wir sehr gut nähen konnten. Wir machten Taschen, die sie verkauften. Waschen mußten wir draußen, selbst im Winter, ohne Mantel.«
    Sie beklagte sich nicht, sie stellte nur fest.
    »Warst du glücklich, daß du von dort fortkamst?«
    »Ja.«
    Er wollte sie nicht an Paquôt erinnern.
    »Ehe du herkamst, hattest du also noch nicht richtig gelebt.«
    »Warum gehst du sonntags in die Messe?«
    »Ich bin immerhin sechzehn Jahre.«
    »Aus Gewohnheit. Dort, wo ich war, war die Kapelle nicht geheizt. Wir mußten einmal in der Woche beichten und kommunizieren.«
    Auch er hatte als Junge in die Kirche gehen müssen, aber nur sonntags.
    Mit dreizehn Jahren konnte er schon, wenn er seine Arbeit auf dem Hof gemacht hatte, tun, was ihm Spaß machte. Aber die Arbeit dauerte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Zehnmal am Tag hörte er die kreischende Stimme der Bäuerin, die die Hände in die Hüften stemmte und rief: »Victor!«
    Wo er auch war, er mußte zu ihr laufen, denn sie war die Herrin, nicht ihr Trottel von Mann.
    »Hol die Leiter, klettere hinauf und bring mir zwei Täubchen.«
    Auf dem Hühnerhof gab es auch Gänse und Enten. Am Samstagabend verkaufte sie Eier und Geflügel auf dem Markt, und er konnte sich etwas verschnaufen.
    Mußten er und Alice nicht nachholen, was sie in der Kindheit hatten versäumen müssen? Er war hart geworden, war der Herr geworden.
    Und nun mit fünfundvierzig Jahren wurde er so verletzlich wie ein blutjunger Mensch, dessen Schicksal, Glück oder Unglück, in den Händen eines Mädchens lag.
    »Findest du mich alt?«
    »Ich weiß nicht, wie alt du bist.«
    »Fünfundvierzig.«
    »Deine Frau ist wohl älter.«
    »Ja, drei Jahre.«
    »Sie wirkt viel älter.«
    »Sicher, weil sie graues Haar hat.«
    Sie hatte ihm nicht direkt geantwortet, und es kam oft vor, daß sie wie die Katze um den heißen Brei herumging.
    »Würdest du, wenn ich frei wäre, bereit sein, mich zu heiraten?«
    Sie schwieg eine ganze Weile, und das tat ihm weh.
    »Du bist aber doch nicht frei.«
    »Angenommen, ich würde es.«
    »Dann wäre immer noch Zeit, es zu entscheiden.«
    »Würde es dir nicht gefallen, mit mir ganz wie Mann und Frau zusammen zu leben?«
    »Ich weiß nicht.«
    Das antwortete sie meistens, wenn er sie ein wenig drängte.
    »Du liebst mich nicht, nicht wahr?«
    »Ich kenne dich noch zu wenig.«
    »Dennoch«, sagte er bekümmert, »habe ich dir vielleicht eben ein Kind gemacht.«
    »Das hat nichts damit zu tun.«
    War sie wirklich so naiv? In wenigen Minuten würde sie ihm wieder gehören.
    »Du weißt fast alles von mir«, warf er ein. »Ich habe dir von meiner Jugend und meinen Anfängen erzählt.«
    »Ja.«
    »Was möchtest du sonst noch wissen?«
    Und sie sagte wieder nur: »Ich weiß nicht.«
    Jeanne las, wie man sagt, in ihm wie in einem Buch. Und das, seit sie sich kennengelernt hatten. Täuschte sie sich nicht vielleicht? Ihr Scharfblick ärgerte ihn oft. Er empfand sie wie eine Mutter, die manchmal nachsichtig und dann wieder hart und stumm ist.
    Sie hatte am Telefon Alice nicht erwähnt. Dennoch dachte sie gewiß an sie, und er war sicher, sie ahnte, was passiert war. Aber bestimmt wußte sie nicht, daß er Alice wirklich liebte und daß sich das nicht ändern würde.
    Würde sie nicht fürchten, daß die andere ihren Platz einnehmen könnte? Oder hatte sie zuviel Selbstvertrauen?
    Er trieb es wieder mit Alice, und diesmal lauerte sie auf den Augenblick, da er sich in sie ergoß.
    »Das ist ganz heiß«, sagte sie.
    »Weißt du, um was ich dich bitten möchte?«
    »Nein.«
    »Daß ich heute hier bei dir schlafen kann. Es wird sicher lange dauern, bis wir wieder Gelegenheit dazu haben werden.«
    »Das Bett ist nicht breit.«
    »Pas macht nichts. Wir würden zusammen schlafen.«
    Sie schien nachzudenken, das Für und Wider zu erwägen. Sie merkte bestimmt allmählich, welche Macht sie über ihn hatte, und vielleicht war das ein Spiel, das sie spielte.
    »Wenn du es wirklich willst.«
    Er machte das Licht aus, und sie fragte:
    »Kann ich nicht mein Hemd wieder anziehen?«
    »Es ist mir lieber, wenn du es nicht tust.«
    »Werden wir nicht frieren?«
    »Nicht, wenn wir zusammen im Bett liegen. Komm.«
    Er zog sie an sich und legte ihren Kopf auf seine Brust.
    »Liegst du so gut?«
    »Ja.«
    Einen Augenblick später fügte sie hinzu, während sie das Haar, das ihr ins Gesicht fiel, zurückschob: »Du riechst nach Mann.«
    Sie

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