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Der reiche Mann

Der reiche Mann

Titel: Der reiche Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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zweiten Reihe neben dem Katafalk, und seine Gedanken kreisten um die Tote.
    Er hatte seine Schwägerin so oft lachen sehen, und jetzt lag sie dort in dem Sarg, und bald würde man sie in die Erde betten.
    Und wenn es nun Jeanne und nicht Hortense gewesen wäre? Er konnte nicht umhin, das zu denken. In fünf Jahren hatte Jeanne zwei Infarkte gehabt. Der Arzt hatte Victor nicht verhehlt, daß ein weiterer tödlich sein könnte. Er hatte ihr kleine rosa Tabletten verschrieben, von denen sie immer einen Flakon in ihrer Handtasche hatte.
    Er sah sie im Profil, ihre starken Kinnbacken, sah sie unentwegt auf den Altar starren.
    Der Ministrant schwang sein Glöckchen, und die Messe begann, während der Chor auf der Empore die üblichen Lieder anstimmte.
    Lecoin war beklommen zumute. Der Duft der Blumen in der Nähe und der Geruch der Kerzen stieg ihm gleichzeitig in die Nase, und ohne daß er es wollte, kehrte sein Blick immer wieder zu dem Gesicht seiner Frau zurück.
    Alice machte jetzt gewiß in den fast menschenleeren Straßen von Marsilly ihre Besorgungen. Heute abend würde er nicht in den zweiten Stock hinaufgehen, um mit ihr zu schlafen. Er glaubte noch ihren Kopf auf seiner Brust zu fühlen und ihren regelmäßigen Atem zu hören.
    Dies war nicht der Augenblick, vorauszudenken. Was konnte er auch schon für Pläne machen? In Wirklichkeit hing ja alles von der Frau mit den harten Zügen ab, die in der ersten Reihe saß. Sie ahnte bestimmt, was passiert war.
    Würde sie ihn nach der Rückkehr deswegen zur Rede stellen? Oder würde sie so tun, als ob sie nichts ahne?
    Ihm war heiß. Er war es nicht gewöhnt, Kragen und Schlips zu tragen. Beim Opfer machte er es wie die anderen. Man hörte das Getrappel vieler Menschen auf den Steinen, ehe sie sich hinknieten, um die Patena zu küssen und dann einen Obolus in eine Holzschale zu legen.
    Danach folgte die Absolution, die Tür der Kirche öffnete sich weit, und plötzlich schien die Sonne herein.
    Der Sarg wurde hinausgetragen. Man stellte sich in Reihen auf, und der Leichenzug setzte sich in Bewegung.
    Auch auf dem Friedhof warteten Leute, die nicht hatten in die Kirche kommen können. Bernard war sehr angesehen, und der Bürgermeister und mehrere Stadträte hatten sich herbemüht.
    Lecoin betrachtete die Grube, in die man den Sarg hinunterließ. Dann blickte er unwillkürlich seine Frau an, wandte aber schnell die Augen ab. Er schämte sich seiner Gedanken.
    Wäre damit nicht das ganze Problem gelöst? Er grollte Jeanne nicht. Es war nicht ihre Schuld. Wessen Schuld war es eigentlich? Vielleicht seine eigene, weil er sie geheiratet hatte?
    Aber konnte er mit fünfundzwanzig Jahren voraussehen, daß er sich zwanzig Jahre später so leidenschaftlich verlieben würde?
    Er würde mit Alice fortgehen. In diesem Augenblick auf dem Friedhof war er dazu entschlossen. Er würde Jeanne die Hälfte des Geldes und des Bodens überlassen, denn sie hatten unter Gütertrennung geheiratet.
    Er war überzeugt, daß sie nicht unglücklich sein würde. Im Gegenteil! Sie würde das Geschäft weiterführen, wie sie es schon zum Teil tat, und würde den Taubstummen mit jemandem, den sie engagierte, zu den Muschelbänken schicken.
    Alles ging ihm wie ein Mühlrad im Kopf herum. Man drückte von neuem Hände. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Menschen zerstreuten sich allmählich, drängten sich manchmal zwischen Gräbern hindurch.
    »Dir scheint nicht ganz wohl zu sein.«
    Es war Jeanne, die das sagte. Sie war zu ihm gekommen.
    »Mir ist heiß. Die Feier hat lange gedauert.«
    Er hatte das Gefühl, in flagranti ertappt worden zu sein.
    »Wir werden alle im Restaurant essen. Im Hotel de la Couronne ist ein Salon reserviert.«
    Sie gingen in kleinen Gruppen, die einander in kurzem Abstand folgten, dorthin. Der Hoteldirektor stand auf der Treppe, um sie zu empfangen. Es war für gut zwanzig Personen ein Tisch gedeckt, und auf einer Anrichte warteten Gläser und Flaschen mit Aperitif auf sie.
    »Was nehmen Sie, mein Herr?«
    Er betrachtete die Etiketten der Flaschen und entschied sich für einen Portwein. Er trank ihn gierig und ließ sich sein Glas gleich noch einmal füllen.
    Alle tranken. Man wagte aber nicht anzustoßen. Auf wessen Wohl hätte man sein Glas erheben sollen?
    Bernard wischte sich die Stirn und den Nacken, der dick war und über seinem Kragen einen Wulst bildete.
    »Sie haben Glück, Victor. Jeanne ist kräftig. Sie ahnen nicht, wie es ist, plötzlich allein zu sein. Meine

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