Der reiche Mann
jüngste Tochter wird sich verheiraten, und dann bin ich ganz allein im Haus.«
Seine Augen wurden feucht. Auch er goß sich zu trinken ein. Man hörte Stimmengewirr, und der Oberkellner kam, um zu melden, daß das Essen angerichtet sei.
Victor saß ziemlich weit von Jeanne entfernt neben der jüngsten Tochter, der, von der er gerade erfahren hatte, daß sie verlobt war.
Er ließ seine Augen durch den Salon schweifen, über die von oben bis unten getäfelten Wände und den riesigen, am hellen Tag brennenden Lüster.
Wurde dieser Salon nicht auch für Verlobungs- und Hochzeitsfeiern benutzt? War das Menü nicht fast das gleiche, ob der Anlaß nun freudig oder traurig war?
Es gab einen Hummercocktail, dann Ente à l’orange und zum Schluß eine Eisbombe. Ferner mindestens drei Sorten Wein, und der Kellner ließ die Gläser nie auch nur einen Augenblick leer, so daß die Stimmen der am Tisch Sitzenden immer lauter wurden.
Manche vergaßen bestimmt, warum sie hier waren.
»Fahren Sie noch heute abend zurück?« fragte ihn seine Nachbarin.
»Ja. Ich muß morgen in aller Frühe bei den Muschelbänken sein.«
»Geht meine Tante auch dorthin?«
»Nein. Andere Frauen gehen hin. Jeanne arbeitet im Büro, nimmt die Bestellungen entgegen und befaßt sich mit den Rechnungen und dem Versand.«
»Sie ist Ihnen sicher eine wertvolle Stütze.«
Zu seiner eigenen Überraschung antwortete er: »Ja.«
Und es stimmte. Jeanne tat eine Arbeit; die er nicht hätte tun können. Daran hatte er noch nie gedacht.
Wie bei einem Bankett wurden Zigarren herumgereicht, und ein paar der Männer steckten sie in die Tasche, um sie später zu rauchen. Die Gesichter waren gerötet, und zum Kaffee gab es Cognac.
Heute abend würde Victor im ersten Stock schlafen müssen, im selben Bett wie…
Dieser Gedanke war ihm unerträglich. Aber warum, lieber Gott, da doch gar nichts zwischen ihnen war? Er blickte zu ihr hinüber und merkte, daß sie ihn beobachtete.
Sie erriet immer alles. Erriet sie auch, was er in diesem Augenblick dachte, was er während des Seelenamts gedacht hatte?
Einige erhoben sich und drückten Bernard, der jedesmal von seinem Stuhl aufstand, die Hand, ehe sie gingen. Bald saß nur noch die engste Familie am Tisch, und Lecoin machte seiner Frau ein Zeichen. Sie nickte, und wieder wurden Hände gedrückt, und man umarmte sich.
»Wo steht dein Wagen?«
»Fast dem Haus gegenüber.«
»Ich muß noch meinen Koffer holen.«
Sie gingen nebeneinander auf dem sonnigen Gehsteig und sahen ihre langen Schatten vor sich.
Warum hatte Lecoin das Gefühl, es sei Sonntag? Sicherlich seines Anzugs wegen. Außerdem war er es nicht gewöhnt, Seite an Seite mit seiner Frau auf einer Straße zu gehen.
Die Straßen wirkten fast verlassen, selbst im Stadtzentrum.
Endlich erreichten sie den Wagen, Jeanne ging in das Haus und erschien bald darauf wieder mit einer alten Frau, die die Tür hinter ihr schloß. Die schwarzen Draperien waren verschwunden. Das Leben ging wieder seinen Gang.
Sie setzte sich neben ihn, und auf einer Strecke von mehr als zehn Kilometern sagte sie kein Wort. Auch er schwieg. Er war sehr nervös, fragte sich, was geschehen würde, wenn sie erst zu Hause wären. Als sie durch ein Dorf fuhren, wo Kinder auf der Schwelle eines Hauses spielten, brach Jeanne das Schweigen.
»Du bist doch wohl vorsichtig gewesen?«
So plötzlich mit dieser Frage überfallen, wußte er nicht, was er darauf antworten sollte, und murmelte nur erstaunt: »Wieso vor sichtig?«
»Spiel nicht den Harmlosen, Victor!«
Sie war nicht verärgert. Ihre Stimme klang nicht hart, im Gegenteil, es war fast, als nähme sie ihn unter ihre Fittiche.
»Ob ihr es beide miteinander treibt, ist mir gleich, aber ich möchte dich nicht im Gefängnis sehen.«
»Sei unbesorgt.«
»Hat sie gut für dich gesorgt?«
»Sehr gut.«
»Kann sie etwas kochen?«
»Wahrscheinlich hat man es ihr in dem Heim, in dem sie war, beigebracht. Sie hat dort auch nähen gelernt.«
Warum betonte er das so?
»Sie war bei Nonnen«, fügte er hinzu.
»War sie Sonntag in der Messe?«
»Nein. Sie geht nicht mehr in die Messe.«
»Hoffentlich hast du es nicht in unserm Schlafzimmer mit ihr getrieben.«
»Nein.«
»In ihrem Zimmer?«
»Ja.«
Ihm wurde immer unbehaglicher zumute. Es war, als ob seine Frau seine reine Liebe beschmutzte, indem sie sie herabsetzte, nur eine rein physische Anziehung in ihr sah.
Er hätte ihr am liebsten zugerufen: ›Aber ich liebe sie,
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