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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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mich gezwungen hast, mitanzusehen, wie meine Mama mich so beschimpft.
    Er trottete weiter und betrat das Gerichtsgebäude. Das einzig gute daran, daß Alvin im Gefängnis saß, war, daß Arthur Stuart immer wußte, wo er ihn finden konnte.
    Napoleon konnte kaum glauben, daß er diesen amerikanischen Jungen, Calvin, fast getötet hätte. Er konnte sich auch kaum noch daran erinnern, welche Angst es ihm in den ersten Tagen gemacht hatte, die Macht des Jungen zu beobachten. In den ersten paar Tagen hatte Napoleon ihn genau beobachtet, kaum geschlafen, aus Furcht, der Junge würde ihm des Nachts etwas antun. Ihm zum Beispiel die Beine abnehmen. Das wäre eine Heilung für die Gicht! Dieser Gedanke kam ihm allerdings nur in den Sinn, weil er sich in seinen Qualen oft gewünscht hatte, daß bei einer seiner Schlachten eine Kanonenkugel ihm sein Bein abgerissen hätte. Auf Krücken zu humpeln … das konnte nicht schlimmer sein als diese Schmerzen. Und der Junge hatte ihm solche Erleichterung verschafft. Keine Heilung, aber ein Nachlassen der Pein.
    Im Austausch dafür war Napoleon bereit, sich von Calvin manipulieren zu lassen. Er wußte, wer in Wirklichkeit die Kontrolle hatte, und das war keineswegs so ein Emporkömmling, ein unwissender amerikanischer Junge. Wen interessierte es schon, ob Calvin sich für klug hielt, wenn er im Austausch für eine Lektion darüber, wie man Menschen beherrschte, ihm einen weiteren Tag ohne Schmerz verschaffte? Glaubte er wirklich, Napoleon würde ihn irgend etwas lehren, das ihm die Oberhand verschaffte? Ganz im Gegenteil, mit jeder Stunde, jedem Tag, den sie gemeinsam verbrachten, wurde Napoleons Herrschaft über einen Jungen, der unbeherrschbar hätte sein können, stärker und tiefer. Und Calvin hatte keine Ahnung.
    Niemand verstand es, kein einziger von ihnen. Sie alle glaubten, sie würden Napoleon aus Liebe und Bewunderung dienen, oder aus Gier und Eigennutz, oder aus Furcht und Vorsicht. Welches Motiv auch immer sie trieb, Napoleon nährte es, verschaffte sich die Herrschaft darüber. Einige wurden von Scham getrieben, und einige von Schuld; einige vom Ehrgeiz, einige von Lust, einige sogar von ihrem Übermaß an Frömmigkeit – denn falls es nötig sein sollte, konnte Napoleon eine religiös ausgehungerte Seele davon überzeugen, daß er Gottes ausgewählter Diener auf Erden war. Das war nicht schwer. Nichts davon war schwer, wenn man andere Menschen so verstand, wie es bei Napoleon der Fall war. Sie schwitzten ihre Wünsche geradezu aus, und er konnte sie wahrnehmen wie den Geruch eines Athleten nach dem Wettkampf oder eines Soldaten nach der Schlacht, wie den Geruch einer Frau – Napoleon mußte nicht einmal nachdenken, er sprach einfach das Wort, genau die Worte, die sie hören mußten, damit er sie auf seine Seite ziehen konnte.
    Und bei den seltenen Gelegenheiten, wenn jemand immun gegen seine Worte war, wenn jemand ein Schutzamulett oder ein Hexagramm hatte, von denen jedes neue ausgeklügelter als das vorherige sein mußte – nun, dafür gab es dann Wachen. Dafür gab es die Guillotine. Die Leute wußten, daß Napoleon kein grausamer Mensch war, daß unter seiner Herrschaft nur wenige jemals bestraft wurden. Sie wußten, wenn jemand auf die Guillotine geschickt wurde, dann, weil die Welt besser dran wäre, wenn dieser Mund von den Lungen, diese Hände vom Kopf getrennt waren.
    Calvin? Ach, der Junge hätte gefährlich sein können. Der Junge hatte die Macht, sich vor der Guillotine zu retten, zu verhindern, daß die Klinge seinen Hals berührte. Der Junge konnte vielleicht alles verhindern, was nicht völlig überraschend für ihn kam. Wie hätte der Kaiser ihn besiegen wollen? Vielleicht ein bißchen Opium, um ihn zu betäuben; irgendwann mußte er ja mal schlafen. Aber das alles spielte keine Rolle. Es war nicht mehr nötig, ihn zu töten. Nur ein paar Betrachtungen, etwas Geduld, und Napoleon hatte ihn.
    Nicht als seinen Diener – nein, dieser amerikanische Junge war klug, er achtete darauf, keinem Versuch Napoleons nachzugeben, ihn in einen Sklaven zu verwandeln, in einen dieser Diener, die ihren Kaiser mit bewundernden Blicken betrachteten. Dann und wann ließ Napoleon eine Bemerkung fallen, eine Art Finte, damit Calvin glaubte, er wehre einen der besten Streiche des Kaisers ab. Aber in Wirklichkeit hatte Napoleon keine Verwendung für die Treue dieses Jungen. Nur für seine heilende Berührung.
    Dieser Junge wurde von Neid getrieben. Wer hätte das gedacht? All

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