Der Reisende
es wurde durchtrennt. Nicht der Faden durchtrennt das Leben, der Tod durchtrennt den Faden.«
»Also führst du Buch darüber, ist es das? Das Weben verursacht nichts, sondern zeichnet einfach nur alles auf.«
Becca lächelte verkniffen. »Passive, nutzlose Geschöpfe, die wir sind, aber wir müssen weben.«
Peggy glaubte ihr nicht, aber es war sinnlos, mit ihr zu streiten.
»Warum hast du mich hierher geführt?«
»Ich habe es dir doch gesagt. Ich war es nicht.«
»Warum hat sie mich hierher geführt?«
»Damit du richtest.«
»Worüber soll ich denn richten?«
Becca ließ den Schlegel von ihrer rechten Hand zur linken gleiten. Der Webstuhl knallte vor und fiel dann zurück. Sie ließ den Schlegel von der linken Hand zur rechten gleiten. Erneut rammte der Rahmen vor und zog die Fäden stramm.
Das ist ein Traum, dachte Peggy. Und kein sehr angenehmer. Warum kann ich nie einfach aufwachen, um einem törichten, sinnlosen Traum zu entfliehen?
»Ich persönlich«, sagte Becca, »bin der Ansicht, daß du dein Urteil bereits gefällt hast. Lediglich meine Schwester glaubt, daß du eine zweite Chance verdienst. Sie ist sehr romantisch. Sie glaubt, du hättest etwas Glück verdient. Ich hingegen bin der Auffassung, daß das Glück der Menschen eine sehr willkürliche Angelegenheit ist und ihnen so oder so zuteil wird. Also kann man es sich nicht gerade verdienen.«
»Also soll ich über mich selbst richten?«
Becca lachte.
Eins der Mädchen steckte den Kopf in den Raum. »Mutter sagt, es sei gemein und gefühllos, wenn du während des Webens lachst«, sagte es.
»Naseweis«, sagte Becca.
Das Mädchen lachte hell, und Becca ebenfalls.
»Mutter hat etwas wirklich Widerwärtiges für dich zum Abendessen zusammengebraut. Mit Klößchen.«
»Widerwärtiges mit Klößchen«, sagte Becca. »Iß mit mir.«
»Ja, die Richterin soll mit uns zu Abend essen«, sagte das Mädchen. »Sie ist wirklich sehr herrisch. Sie soll uns was von Recht und Unrecht erzählen.« Damit verschwand das Kind.
Becca gackerte einen Augenblick lang. »Die Kleinen sind noch so sie selbst. Noch immer sehr beeindruckt von der Vorstellung, daß sie nicht Teil der normalen Welt sind. Du mußt ihnen verzeihen, daß sie so arrogant und grausam sind. Sie hätten ihrem Bruder aber keinen großen Schaden zufügen können, weil sie nicht die Kraft haben, einen Schlag zu landen, der ihn wirklich verletzen würde.«
»Er hat geblutet«, sagte Peggy. »Er hat gehumpelt.«
»Aber das Eichhörnchen ist gestorben«, sagte Becca.
»Für Eichhörnchen webst du keine Fäden.«
»Ich webe keine Fäden für sie. Aber das heißt nicht, daß ihre Fäden nicht gewebt werden.«
»Ach, sag es mir doch geradeheraus. Verschwende meine Zeit nicht mit Geheimnissen.«
»Das habe ich auch nicht getan«, sagte Becca. »Keine Geheimnisse. Ich habe dir alles erzählt, was nützlich ist. Alles, was ich dir sonst noch erzähle, könnte dein Urteil beeinflussen, und deshalb werde ich es nicht tun. Ich habe meiner Schwester ihren Willen gelassen, und sie durfte dich hierher holen, aber ich werde dein Leben ganz bestimmt nicht noch mehr beeinflussen. Du kannst gehen, wann immer du willst – das ist eine Wahl, und ein Urteil, und ich werde mich damit zufrieden geben.«
»Werde ich das auch?«
»Komm in dreißig Jahren zurück und sag’s mir.«
»Werde ich dann noch …«
»Falls du dann noch lebst.« Becca grinste. »Hältst du mich etwa für so tolpatschig, daß ich mich verplappere und die tatsächliche Spanne deiner Jahre ausplaudere? Ich kenne sie nicht mal. Sie hat mich nicht mal so sehr interessiert, daß ich nachgesehen habe.«
Zwei Mädchen kamen mit einem Teller und einer Schüssel und einer Tasse auf einem Tablett herein. Sie stellten es auf einen kleinen Tisch neben dem Webstuhl. Auf dem Teller lag eine seltsam riechende Speise. Peggy erkannte nichts davon. Und es befand sich auch nichts darauf, was sie als Klößchen bezeichnet hätte.
»Ich mag es nicht, wenn die Leute mir beim Essen zusehen«, sagte Becca.
Aber Peggy war nun, nachdem Becca immer nur so ausweichend geantwortet hatte, sehr wütend, und deshalb ging sie nicht, wie die Höflichkeit es verlangt hätte.
»Dann bleib«, sagte Becca.
Die Mädchen begannen sie zu füttern. Becca machte keine Anstalten, sich das Essen anzusehen. Sie behielt den perfekten Rhythmus ihres Webens bei, wie sie es auch während ihres gesamten Gesprächs getan hatte. Die Mädchen bewegten Löffel, Gabel oder Tasse
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