Der Reisende
Laster … Weisheit über alle Leute zu verspritzen. Aber meistens trocknet sie wirklich schnell und läßt keine Flecken zurück.«
Alvin verzog das Gesicht. »Geschichtentauscher, ich bin noch nicht bereit, mein Zuhause zu verlassen.«
»Vielleicht müssen die Menschen ihr Zuhause verlassen, bevor sie dazu bereit sind, oder sie sind niemals dafür bereit.«
»War das ein Paradoxon, Geschichtentauscher? Miss Larner hat mir von Paradoxa erzählt.«
»Sie ist eine gute Lehrerin und weiß alles darüber.«
»Ich weiß über Paradoxa nur, daß man sie aus dem Stall schaufeln muß, sonst fängt es in der Scheune wirklich übel an zu stinken und wimmelt dort bald vor Fliegen.«
Darüber lachte Geschichtentauscher, und Alvin fiel in das Gelächter ein, und das war das Ende des ernsten Teils des Gesprächs. Aber die ganze Sache ging Alvin nicht aus dem Kopf. Er wußte nun, daß Geschichtentauscher der Ansicht war, er solle in die Welt hinausziehen, aber er hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte, wenn er wirklich ging, und er war auch nicht bereit, sein Versagen einzugestehen. Es gab alle möglichen Gründe, doch zu bleiben. Der wichtigste Grund war, daß er hier ganz einfach zu Hause war. Er hatte seine halbe Kindheit fern von der Familie verbracht, und es war schön, jeden Tag am Tisch seiner Mutter zu sitzen. Schön, seinen Vater in der Mühle stehen zu sehen. Die Stimme seines Vaters zu hören, seiner Brüder, seiner Schwestern, wie sie lachten und sich stritten und sich etwas erzählten und Fragen stellten, die Stimme seiner Mutter, die scharfe, süße Stimme seiner Mutter, sie alle, die seine Tage und Nächte wie eine Decke bedeckten, ihn warm hielten, wie sie alle zu ihm sagten: Du bist hier in Sicherheit, du bist hier bekannt, wir sind deine Familie, wir werden uns nicht gegen dich wenden. Alvin hatte noch nie in seinem Leben eine Symphonie gehört, nie mehr als gleichzeitig zwei Fideln und ein Banjo, aber er wußte, daß kein Orchester schönere Musik machen konnte, als es die Stimmen seiner Familienangehörigen taten, die ihre Häuser und Scheunen und die Mühlen und die Läden in der Stadt betraten und verließen, Fäden der Musik, die ihn mit diesem Ort verbanden, so daß er es nicht über sich brachte ihn zu verlassen, obwohl er wußte, daß Geschichtentauscher recht hatte und er gehen sollte.
Wie hatte Calvin das nur geschafft? Wie hatte Calvin diese Musik zurücklassen können?
Dann kam Miss Larners Brief.
Measures Sohn Simon brachte ihn, der jetzt fünf und alt genug war, um zu Armors Laden zu laufen und die Post zu holen. Er konnte mittlerweile schon schreiben und lesen, so daß er den Brief nicht einfach seiner Großmutter oder seinem Großvater gab, sondern ihn direkt zu Alvin brachte und aus vollsten Lungen verkündete: »Er ist von einer Frau! Sie heißt Miss Larner und schreibt richtich schöne Buchstaben!«
»Richtig schöne Buchstaben«, verbesserte Alvin ihn.
Simon ließ sich nicht hereinlegen. »Ach, Onkel Al, du bist hier die einzige Person, die das so ausspricht. Ich wäre ja schön blöd, wenn ich auf so einen Witz reinfallen tat!«
Alvin brach das Siegelwachs auf und entfaltete den Brief. Er kannte ihre Handschrift aufgrund der vielen Stunden, die er versucht hatte, sie nachzuahmen, als er damals in Hatrack River von ihr unterrichtet worden war. Seine Schrift war nie so glatt gewesen, konnte nie so fließen wie die ihre. Und er war auch nicht so eloquent. Worte waren nicht seine Begabung, zumindest die formellen, eleganten Worte nicht, die Miss Larner – Peggy – in ihrem Brief benutzte.
Lieber Alvin,
Du bist zu lange in Vigor Church geblieben. Calvin ist eine große Gefahr für Dich, und Du mußt ihn suchen und Dich mit ihm versöhnen; wenn Du darauf wartest, daß er zu Dir zurückkommt, wird er das Ende Deines Lebens mit sich bringen.
Ich kann fast hören, wie Du mir antwortest: Ich tu keine Angst davor haben, mein Leben enden zu sehen. (Ich weiß, daß Du noch immer das Wort ›tun‹ benutzt, nur um mich zu ärgern.) Geh oder bleib, das hängt von Dir ab. Aber ich kann Dir eins sagen. Entweder, Du gehst jetzt, aus freien Stücken, oder Du wirst irgendwann in naher Zukunft gehen, aber nicht freiwillig. Du bist nun ein reisender Schmiedegeselle – und Du wirst auf Reisen gehen.
Vielleicht werden wir uns während Deiner Reisen begegnen. Es würde mich freuen, Dich wiederzusehen.
Aufrichtig,
Deine Peggy
Alvin hatte keine Ahnung, was er von diesem Brief halten
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