Der Reiz des Verbotenen - Page, S: Reiz des Verbotenen
In einem Moment war Lydias Gesicht noch vor ihren Augen, im nächsten starrte sie auf seine Weste. Drachen. Gestickte Drachen tummelten sich dort auf seiner breiten Brust.
„Raus hier!“, befahl er und schob sie rückwärts zur Tür. Ihre Füße gehorchten, obwohl ihre Hände ebenso nutzlos herunterhingen wie Lydias und ihre Augen ebenso starr blickten. „Komm, Venetia, in mein Zimmer. Du musst hier heraus.“
Seine Stimme. Fest. Entschlossen. Natürlich musste sie tun, was er sagte.
Doch es gab etwas, was sie außerdem tun musste, was sie plötzlich auch tun konnte.
Ihre Lippen öffneten sich, ihre Lungen füllten sich mit Luft.
Sie schrie.
Venetia hörte andere Schreie. Und Stimmen. So viele Stimmen hämmerten in ihrem Kopf, schrill, tief, aufgeregt, ängstlich, schreiend, rufend, streitend, alles gleichzeitig.
Sie saß aufrecht auf Marcus‘ Bett und stützte ihren Kopf mit der Hand. Die Verbindungstür stand ein kleines Stück offen. Der Riegel war nicht eingerastet, und die Tür zurückgeschwungen, nachdem Marcus sie geschlossen hatte. Aber niemand war hereingekommen. Sie zitterte unter seiner Tagesdecke. Marcus hatte sie darin eingewickelt, hatte sie durch die Decke hindurch gerubbelt, bis ihre Arme und Beine anfingen, sich warm anzufühlen, anstatt schwer und … und tot.
Aber er hatte gehen müssen, um sich mit den Gästen auseinanderzusetzen, die in ihr Zimmer stürzten und die entsetzliche Entdeckung machten …
Sie sollte aufstehen. Ihm helfen. Der Sache ins Gesicht sehen.
Was für eine Sorte von unabhängiger Frau war sie, wenn sie sich unter der Bettdecke versteckte? Mit zitternden Beinen strampelte sie die Laken weg. Sie konnte sich nicht einfach hier verbergen, während er mit … mit Lydias Körper fertig werden musste.
Sie musste sich selbst zwingen, daran zu denken. An das Bild zu denken, das sie gesehen hatte. Sie musste sich selbst abstumpfen, sodass sie bei dem Anblick nicht wieder einen Schock erleiden würde.
Wenn sie ihrer Mutter bei der Wohltätigkeitsarbeit im Dorf geholfen hatte, war sie so vielen grausamen Szenen ausgesetzt gewesen, dass sie meinte, durch nichts mehr erschüttert werden zu können. Sie hatte Frauen gesehen, die zu Brei geschlagen worden waren, verprügelt, bis sie nicht mehr wie menschliche Wesen aussahen, und sie hatte geholfen, die Wunden zu versorgen.
Zu jener Zeit hatte sie den Mut gefunden, mit diesen Dingen umzugehen, weil sie keine Wahl gehabt hatte. Doch jetzt hatte sie die Wahl. Sie konnte sich verstecken. Oder sie konnte an Marcus‘ Seite sein. Konnte zu etwas nütze sein, anstatt nur eine Last …
Sie hatte Mut. Der Schock hatte ihn ihr geraubt, doch sie konnte ihn wiederfinden.
Venetia glitt von Marcus‘ Bett und landete unsicher auf ihren Füßen. Ungeschickt zog sie ihre Röcke herunter, während sie einen Schritt machte. Ihre Beine zitterten. Sie klammerte sich an den Bettpfosten.
Es klopfte an der Tür, die auf den Flur hinausführte.
„Brandy, Ma’am“, rief eine männliche Stimme. „Für Ihr’n Schock.“
Während sie zur Tür ging, hatte sie Gelegenheit, ihre bebenden Glieder zu erproben. Sie musste sich an das Bett stützen, dann an die Wand, um nicht zu fallen, doch als sie schließlich die Tür erreichte, fühlte sie sich schon ein bisschen besser. Dennoch waren ihre Finger so gefühllos, dass sie die Tür nicht aufbekam. Natürlich konnte sie die Tür nicht öffnen. Marcus hatte den Schlüssel.
Ihre Stimme zitterte, als sie versuchte, dem Diener das durch die Tür hindurch zu erklären. Der Laufbursche hatte offenbar keinen Universalschlüssel, denn er ging fort, nachdem er versprochen hatte, zurückzukehren.
Brandy war vielleicht eine gute Idee, bevor sie wieder in ihr Zimmer ging.
Nur wenige Augenblicke später klopfte es erneut, dann hörte sie das leise Geräusch, mit dem der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Der Schlüssel wurde umgedreht, die Tür öffnete sich, und der Diener rauschte mit einem Silbertablett ins Zimmer, auf dem ein großes, bauchiges Glas mit Brandy stand. Es war der dunkelhaarige Diener – der mit dem schwarzen, lockigen Haar. Derjenige, der Lady Yardleys Brüste geküsst hatte. Damals hatte er ein selbstgefälliges Grinsen in seinem gut aussehenden Gesicht getragen, hatte anmaßend ausgesehen, nun war sein Gesicht unter seiner gepuderten Perücke aschfahl, sein Mund nur eine verbissene Linie.
„Ich nehme an, Ihr Zimmer wird bald in Ordnung gebracht wer’n, Ma’am“, versprach er, das
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