Der Reiz des Verbotenen - Page, S: Reiz des Verbotenen
schon so.
„Wir könnten beides ausprobieren“, fuhr Marcus fort, verlockend wie Luzifer. „Erweitere deinen Horizont.“
Es folgten atemlose Momente. Sie musste nur Ja sagen und dann würde sie in eine Welt unermesslicher Freuden, unermesslichen Abenteuers und unermesslicher Sinnlichkeit eintauchen.
Plötzlich stöhnte er auf. Es war ein frustrierter Ton, kein Laut des Verlangens. „Verdammt. Lydia wollte uns nur ablenken“, stieß er mit gepresster Stimme hervor. „Wir müssen zurück nach oben. Sofort.“
Panik schnürte Venetia die Kehle zu, als sie sich der Tür zu ihrem Schlafzimmer näherten. Ihre Koffer waren abgeschlossen, also konnte Lydia ihre Farben und die Skizzen nicht entdeckt haben, oder doch?
Sie hörte ihren eigenen heftigen Atem … und ein anderes Geräusch, ein leises, stetiges Rasseln. Sein Atem? Ihr Herz konnte es nicht sein, denn das klopfte wie eine Trommel.
Das Geräusch wurde lauter. Es kam aus ihrem Zimmer – hinter der Tür klapperte etwas. Marcus hatte es ebenfalls gehört. Venetias Hand krallte sich in seinen Arm und sie spürte, wie sehr er auf der Hut war, als er vor ihr zurückzuckte.
„Da stimmt etwas nicht. Das Geräusch. Der Wind ist sehr laut, hörst du das? Und es ist kalt.“ Nun fühlte sie es an ihren Knöcheln. Eisige Luft strömte unter der Tür durch. „Als ob ein Fenster offen steht.“
„Ein vergessliches Dienstmädchen? Lüften die Mädchen die Zimmer während eines Sturms?“ Marcus runzelte die Stirn, während er sich mit fast unheimlicher Ruhe der Tür näherte. „Lydia würde kein Fenster öffnen. Sie würde nicht zwei Stockwerke an einer Hauswand hinaufklettern. Vor meinem Fenster gibt es eine Terrasse, aber man müsste dennoch klettern.“ Er drehte den Türknopf. Er ließ sich leicht bewegen, und die Tür öffnete sich.
Eiskalte Luft strömte aus dem Zimmer in den Flur.
„Bitte, Vee, bleib hinter mir.“
Ve e. So hatte er sie noch nie genannt. Immer nur Verführerin oder Füchsin oder Süße. Kosenamen, die er für jede Frau verwenden konnte. „Vee“ war etwas Besonderes. Dieser Name gehörte nur ihr.
Seltsam, wie viel ihr das bedeutete, obwohl ihr Herz vor Angst wild klopfte.
Sie blieb so dicht hinter ihm, dass ihre Finger über seinen Rücken strichen. Unwichtige Details fielen ihr auf: das tiefe Grün seines Jacketts, das Rascheln seiner Hose, das leise Quietschen seiner Stiefel, als er das Zimmer betrat. Ihre leichten Schuhe machten kein Geräusch, während sie hinter ihm herschlich.
„Jesus Christus.“ Rasch und hart zischten die Worte mit seinem scharfen Ausatmen heraus.
Ihr Herz machte einen erschrockenen Satz, und sie streckte den Arm nach Marcus aus, doch er war weg, stand schon vor ihrem Bett. Niemand war im Zimmer, doch etwas Dunkles lag auf den Decken. Sie konnte kaum an seinem breiten Rücken vorbeisehen und trat neben ihn, um einen Blick zu erhaschen.
Es war eine Gestalt. Ein Körper. Die Röcke eines violetten Kleides waren über ihrer Decke ausgebreitet. Die Arme und Beine der Frau waren gespreizt, eine Hand hing über die Bettkante. Eine stumme Frau lag bewegungslos auf ihrem Bett.
Wartete sie? Schlief sie?
Nein. Venetia begann zu zittern. Ihre Knie, ihre Hände bebten.
Marcus bewegte sich, ging vorwärts, und durch die Lücke zwischen seinem Rücken und dem Bettpfosten sah sie das Gesicht der Frau – oder vielmehr die Stelle, wo das Gesicht hätte sein sollen. Es sah aus wie ihre Farbpalette. Flecke in Blau und Rot und Lila. Formlos. Nicht menschlich. Das Gesicht und das dunkle Haar waren eine Masse ohne Umriss. Als hätte jemand Farbe über das Bett geschüttet. Blaue und rote Farbe, die ineinandergelaufen waren und einen violetten See gebildet hatten, durch den wie Ranken die ungemischten Farben liefen …
Die Augen. Plötzlich sah sie sie. Das Weiß der Augen war rein, die Iris tiefblau. Leblos. Die Glasaugen einer Puppe. Und das … das war die Zunge, schwarz verfärbt, wie ein verkohlter Baumstamm hing sie zwischen blauen Lippen und gefletschten Zähnen.
Lydia. Es war Lydias Gesicht.
Ein Wimmern kam über Venetias Lippen. Ihre eigene Zunge lag dick und unbeweglich in ihrem Mund. Sie versuchte zu sprechen. „M…“
Er wandte sich ihr sofort zu.
Das Zimmer schlingerte. Der Boden schien unter ihren Füßen wegzurutschen.
Seine Hände legten sich auf ihre Schultern. Sie hatte Angst, er würde sie zusammenschieben und ihren Brustkorb zerbrechen. Er versuchte nur, sie festzuhalten. Sie zu beschützen.
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