Der Report der Magd
sondern teilten sie zwischen uns auf, und jeder von uns lernte einen Teil auswendig, und dann vernichteten wir sie. Wir benutzten damals noch die Post, aber wir druckten nicht mehr unser Logo auf die Umschläge. Das war inzwischen schon viel zu riskant.
Also versuchte ich mich an meinen Teil der Liste zu erinnern. Ich sag dir den Namen, den ich mir aussuchte, nicht, weil ich die Leute nicht in Schwierigkeiten bringen will, wenn sie die Schwierigkeiten nicht längst gehabt haben. Es könnte sein, daß ich all das Zeug ausgespuckt habe, es ist schwer, sich hinterher daran zu erinnern, was man sagt, wenn sie es tun. Man sagt da alles.
Ich suchte sie aus, weil es ein Ehepaar war, und die waren sicherer als alle Singles und vor allem als alle Schwulen. Ich erinnerte mich auch an die Bezeichnung neben ihrem Namen. Q stand da, und das hieß Quäker. Wir hatten die Religionszugehörigkeit vermerkt, sofern es eine gab, für die Demos. So hatte man eine Ahnung, wer zu welchen gehen könnte. Es hatte keinen Sinn, Ks aufzufordern, Abtreibungssachen mitzumachen, zum Beispiel – nicht daß wir in der Beziehung, in der letzten Zeit noch viel gemacht hätten. Ich erinnerte mich auch an ihre Adresse. Wir hatten uns die Adressen gegenseitig abgehört, es war wichtig, sie genau im Gedächtnis zu behalten, mit Leitzahl und allem.
Inzwischen war ich auf die Mass Ave gestoßen und wußte jetzt, wo ich war. Und ich wußte auch, wo sie waren. Jetzt machte ich mir um etwas anderes Gedanken: Wenn diese Leute eine Tante den Weg zu ihrem Haus heraufkommen sahen, würden sie nicht einfach die Tür abschließen und so tun, als wären sie nicht zu Hause? Trotzdem, ich mußte es probieren, es war meine einzige Chance. Ich glaubte nicht, daß sie mich erschießen würden. Inzwischen war es ungefähr fünf Uhr. Ich war müde vom Gehen, vom Gehen vor allem auf diese Tanten-Art, wie ein blöder Soldat, mit einem Schürhaken im Arsch, und ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.
Was ich natürlich nicht wußte, war, daß damals in den frühen Tagen die Tanten und auch das Zentrum gar nicht allgemein bekannt waren. Am Anfang war das alles ganz geheim, hinter Stacheldraht versteckt. Noch damals hätte es Proteste geben können gegen das, was sie da taten. Obwohl die Leute also hier und da eine Tante zu Gesicht bekommen hatten, wußten sie nicht, wozu sie eigentlich gut waren. Sie müssen angenommen haben, daß sie so etwas wie Lazarettschwestern waren. Sie hatten schon aufgehört, Fragen zu stellen, wenn es nicht unbedingt sein mußte.
Diese Leute ließen mich also sofort herein. Es war die Frau, die an die Tür kam. Ich sagte ihr, daß ich eine Umfrage machte. Das tat ich, damit sie nicht so ein überraschtes Gesicht machte – für den Fall, daß jemand uns beobachtete. Aber sobald ich durch die Tür war, nahm ich die Kopfbedeckung ab und erzählte ihnen, wer ich war. Sie hätten die Polizei anrufen können oder was immer, ich wußte, daß ich ein Risiko einging, aber wie gesagt, ich hatte keine andere Wahl. Sie haben es ja auch nicht getan. Sie gaben mir Kleider, ein Kleid von der Frau, und verbrannten die Tantenuniform und den Paß in ihrem Heizungsofen; sie wußten, daß das sofort geschehen mußte. Sie waren nicht sehr scharf darauf, mich bei sich zu haben, soviel war klar, es machte sie sehr nervös. Sie hatten zwei kleine Kinder, beide unter sieben. Ich konnte sie gut verstehen.
Ich ging pinkeln – was für eine Erleichterung! Die Badewanne war voll mit Plastikfischen und so. Dann saß ich oben im Kinderzimmer und spielte mit den Kindern und ihren Plastikklötzchen, während die Eltern unten blieben und ratschlagten, was sie mit mir machen sollten. Ich hatte zu dieser Zeit keine Angst, im Gegenteil, ich hatte eigentlich ein gutes Gefühl. Fatalistisch war ich, könnte man sagen. Dann machte die Frau mir ein Sandwich und eine Tasse Kaffee, und der Mann sagte, er würde mich zu einem anderen Haus bringen. Sie hatten nicht riskiert, zu telefonieren.
Die Leute in dem anderen Haus waren auch Quäker, und sie waren sehr ergiebig, denn sie waren eine Station auf der Untergrund-Frauenstraße. Als das erste Ehepaar gegangen war, sagten sie, sie würden versuchen, mich außer Landes zu bringen. Ich sage dir nicht, wie, denn einige der Stationen könnten noch in Betrieb sein. Jede von ihnen war immer nur in Kontakt mit einer weiteren, immer der nächsten in der Kette. Das hatte Vorteile – es war besser, wenn man geschnappt wurde –,
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