Der Report der Magd
genügend Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.
Unter dem Geläut der Glocke gehen wir die Wege entlang, die einst von Studenten benutzt wurden, an Gebäuden vorbei, die einst Vorlesungsgebäude und Studentenheime waren. Es ist sehr merkwürdig, wieder hier drinnen zu sein. Von draußen merkt man nicht, daß sich irgend etwas verändert hat, außer daß an den meisten Fenstern die Rollos heruntergezogen sind. Diese Gebäude gehören jetzt den Augen.
Wir reihen uns auf dem großen Rasen vor dem Gebäude auf, in dem früher die Bibliothek war. Die weißen Stufen, die zum Portal hinaufführen, sind noch dieselben, der Haupteingang ist unverändert. Auf dem Rasen ist eine Holzbühne errichtet worden, ähnlich wie die, die in der Zeit davor jedes Frühjahr bei der Verleihung der akademischen Grade benutzt wurde. Ich denke an die Hüte, pastellfarbene Hüte, wie sie von einigen der Mütter getragen wurden, und an die schwarzen Talare, die die Studenten anlegten, und die roten. Aber diese Bühne ist dennoch völlig anders – wegen der drei Holzpfähle, die darauf stehen, mit den Seilschlingen.
Vorn an der Bühne befindet sich ein Mikrofon; die Fernsehkamera ist diskret an der Seite plaziert.
Ich bin erst einmal bei einer Errettung gewesen, vor zwei Jahren. Frauen-Errettungen kommen nicht so oft vor. Es gibt weniger Bedarf dafür. Heutzutage sind wir alle so brav.
Ich wünschte, ich müßte diese Geschichte nicht erzählen.
Wir nehmen unsere Plätze der üblichen Ordnung entsprechend ein: Ehefrauen und Töchter auf den hölzernen Klappstühlen, die weiter hinten aufgestellt sind, Ökonofrauen und Marthas an den Rändern und auf den Stufen vor der Bibliothek, und die Mägde ganz vorn, wo jeder uns im Auge behalten kann. Wir sitzen nicht auf Stühlen, sondern knien, und diesmal haben wir Kissen, kleine rote Samtkissen ohne irgendeine Aufschrift, nicht einmal Glaube.
Zum Glück ist das Wetter annehmbar: nicht zu heiß, bewölkt bis heiter. Es wäre gräßlich, hier im Regen zu knien. Vielleicht warten sie deshalb so lange, bis sie es uns mitteilen: damit sie wissen, wie das Wetter sein wird. Das wäre jedenfalls ein Grund – so gut wie jeder andere.
Ich knie auf meinem roten Samtkissen. Ich versuche an heute Nacht zu denken, an die Liebe in der Dunkelheit, beim Licht, das die weißen Wände zurückwarfen. Ich erinnere mich daran, wie ich in den Armen gehalten wurde.
Ein langes Seil windet sich wie eine Schlange vor der ersten Kissenreihe entlang, dann an der zweiten vorbei, und dann weiter durch die Stuhlreihen nach hinten; es schlängelt sich dahin wie ein sehr alter, sehr langsam fließender Fluß, von oben gesehen. Das Seil ist dick und braun und riecht nach Teer. Das vordere Seilende verläuft zur Bühne hinauf. Es ist wie eine Zündschnur oder der Strick eines Luftballons.
Auf der Bühne, zur Linken, befinden sich die zu Rettenden: zwei Mägde, eine Ehefrau. Ehefrauen dort oben sind ungewöhnlich, und unwillkürlich betrachte ich diese voller Interesse. Ich möchte wissen, was sie getan hat.
Man hat sie hierhergebracht, bevor die Tore geöffnet wurden. Alle drei sitzen auf hölzernen Klappstühlen, wie examinierte Studenten, denen Preise verliehen werden sollen. Ihre Hände liegen in ihrem Schoß und sehen aus, als seien sie gemessen gefaltet. Sie schwanken leicht hin und her, wahrscheinlich hat man ihnen Spritzen oder Tabletten gegeben, damit sie kein Theater machen. Es ist besser, wenn alles glattgeht. Sind sie an ihren Stühlen festgebunden? Es ist unmöglich, das zu sagen, bei all dem drapierten Stoff.
Jetzt nähert sich die offizielle Prozession der Bühne und erklimmt die Stufen an der rechten Seite: drei Frauen, eine Tante, die vorangeht, zwei Erretterinnen in ihren schwarzen Kapuzen und Umhängen einen Schritt hinter ihr. Hinter ihnen die anderen Tanten. Das Geflüster unter uns verstummt. Die drei Frauen stellen sich auf, wenden sich uns zu, die Tante zwischen den beiden schwarzgekleideten Erretterinnen.
Es ist Tante Lydia. Wie viele Jahre ist es her, seit ich sie zum letztenmal gesehen habe? Ich war allmählich schon auf den Gedanken gekommen, daß sie nur in meinem Kopf existierte, aber da ist sie, ein bißchen gealtert. Ich habe eine gute Sicht, ich kann die sich vertiefenden Furchen zu beiden Seiten ihrer Nase, das eingegrabene Stirnrunzeln erkennen. Sie zwinkert mit den Augen, sie lächelt nervös, späht nach links und rechts, blickt über die Zuschauerinnen hin und hebt die Hand, um an
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