Der Report der Magd
ihrer Haube zu zupfen. Ein seltsam erstickter Laut tönt durch das Lautsprechersystem: sie räuspert sich.
Plötzlich fröstelt mich. Haß füllt meinen Mund wie Speichel.
Die Sonne kommt hervor, und die Bühne und die Daraufstehenden werden angestrahlt wie eine Weihnachtskrippe. Ich kann die Falten unter Tante Lydias Augen erkennen, die Blässe der sitzenden Frauen, die Härchen an dem Seil vor mir auf dem Gras, die Grashalme. Ein Löwenzahn steht direkt vor mir, gelb wie ein Eidotter. Ich bin hungrig. Die Glocke hört auf zu läuten.
Tante Lydia steht auf, glättet ihren Rock mit beiden Händen und tritt ans Mikrofon. »Guten Tag, meine Damen«, sagt sie, und ein unmittelbares und ohrenbetäubendes Kreischen kommt aus den Lautsprechern. Aus unseren Reihen kommt unglaublicherweise Gelächter. Es ist schwer, nicht zu lachen, es ist die Anspannung, und es ist der ärgerliche Ausdruck auf Tante Lydias Gesicht, als sie den Ton richtig einstellt. Schließlich soll dies eine feierliche Zeremonie sein.
»Guten Tag, meine Damen«, sagt sie wieder. Diesmal klingt ihre Stimme dünn und flach. Sie sagt Damen statt Mädels, wegen der Ehefrauen. »Ich bin überzeugt, wir sind uns alle der unglücklichen Umstände bewußt, die uns an diesem herrlichen Vormittag hier zusammenführen, an dem wir gewiß alle lieber etwas anderes täten – ich spreche da zumindest für mich selbst. Aber die Pflicht ist ein gestrenger Zuchtmeister, oder darf ich in diesem Fall sagen, eine gestrenge Zuchtmeisterin, und im Namen der Pflicht haben wir uns heute hier versammelt.«
So redet sie ein paar Minuten lang weiter, aber ich höre nicht zu. Ich habe diese Rede oder eine ähnliche schon oft genug gehört: die gleichen Platitüden, die gleichen Parolen, die gleichen Phrasen: die Fackel der Zukunft, die Wiege der Rasse, die Aufgabe vor uns. Es ist schwer zu glauben, daß auf diese Rede nicht höfliches Klatschen folgen wird und daß anschließend auf dem Rasen nicht Tee und Kekse gereicht werden.
Das war der Prolog, denke ich. Jetzt wird sie zur Sache kommen.
Tante Lydia kramt in ihrer Tasche, zieht ein zerknittertes Stück Papier hervor. Sie nimmt sich ungehörig viel Zeit, um das Blatt zu entfalten und zu überfliegen. Sie stößt uns mit der Nase darauf, läßt uns genauestens wissen, wer sie ist, läßt uns zuschauen, wie sie leise liest, protzt mit ihren Vorrechten. Obszön, denke ich. Nun mach schon, damit wir es hinter uns haben.
»In der Vergangenheit«, sagt Tante Lydia, »ist es Brauch gewesen, den eigentlichen Errettungen einen detaillierten Bericht über die Verbrechen, deren die Gefangenen überführt sind, vorausgehen zu lassen. Wir haben jedoch festgestellt, daß solch ein öffentlicher Bericht, besonders wenn er im Fernsehen übertragen wurde, unweigerlich eine Flut, wenn ich es so nennen darf, einen Ausbruch, sollte ich vielleicht sagen, ganz ähnlicher Verbrechen nach sich zog. Deshalb haben wir im besten Interesse aller beschlossen, diese Praxis nicht fortzusetzen. Die Errettungen werden ohne weitere Umstände vor sich gehen.«
Ein kollektives Gemurmel steigt von unseren Reihen auf. Die Verbrechen anderer sind für uns so etwas wie eine Geheimsprache. Mit ihrer Hilfe führen wir uns selbst vor Augen, wozu wir vielleicht doch noch imstande wären. Es ist also keine sehr populäre Ankündigung. Doch Tante Lydia würde man das niemals anmerken, sie lächelt und blinzelt, als würde sie von Applaus umspült. Von nun an sind wir unseren eigenen Einfällen überlassen, unseren eigenen Spekulationen. Jetzt ziehen sie die erste von ihrem Stuhl hoch – schwarzbehandschuhte Hände an ihren Oberarmen: Lesen? Nein, darauf steht nur Handabschlagen, wenn man das dritte Mal überführt wird. Unkeuschheit oder ein Anschlag auf das Leben ihres Kommandanten? Oder, wahrscheinlicher, auf das Leben der Frau des Kommandanten? Das etwa denken wir. Was die Ehefrau angeht – Ehefrauen werden meistens nur wegen einer Sache errettet. Sie können uns fast alles antun, nur umbringen dürfen sie uns nicht, nicht legal. Nicht mit Stricknadeln oder Gartenscheren oder mit aus der Küche entwendeten Messern, und vor allem nicht, wenn wir schwanger sind. Es könnte natürlich Ehebruch sein. Das kann es immer sein.
Oder ein Fluchtversuch.
»Descharles«, verkündet Tante Lydia. Ich kenne sie nicht. Die Frau wird nach vorn geführt; sie geht, als müsse sie sich richtig darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie steht eindeutig unter
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