Der Report der Magd
Gott
Wie sehnet sich mein Herz zu gehn
Befreit vor deinem Thron zu stehn.
Ich weiß nicht, ob der Text stimmt. Ich kann mich nicht genau erinnern. Und solche Lieder werden nicht mehr öffentlich gesungen, vor allem nicht solche, in denen das Wort frei vorkommt. Sie werden als zu gefährlich betrachtet. Sie haben mit den geächteten Sekten zu tun.
I feel so lonely, baby,
I feel so lonely, baby,
I feel so lonely I could die.
Auch dieses Lied ist geächtet. Ich kenne es von einer alten Musikkassette meiner Mutter; sie besaß auch einen kratzigen und unzuverlässigen Apparat, auf dem man so etwas noch abspielen konnte. Sie spielte die Kassette meistens, wenn ihre Freundinnen herüberkamen und sie zusammen etwas tranken.
Ich singe nicht oft so, weil danach mein Hals wehtut.
Es gibt nicht viel Musik in diesem Haus, außer dem, was wir im Fernsehen hören. Manchmal summt Rita vor sich hin, während sie knetet oder schält; ein wortloses Summen, ohne Melodie, unergründlich. Und manchmal kommt aus dem vorderen Wohnzimmer der dünne Klang von Serenas Stimme, von einer Schallplatte, die vor langer Zeit aufgenommen wurde und jetzt abgespielt wird, leise, damit sie nicht dabei ertappt wird, wie sie zuhört, während sie dasitzt und strickt und sich an ihren früheren und jetzt amputierten Ruhm erinnert: Hallelujah.
Es ist warm für die Jahreszeit. Häuser wie dieses heizen sich in der Sonne auf, die Isolierung reicht nicht. Um mich herum steht die Luft, trotz des leisen Hauchs, der an den Gardinen vorbei hereinstreicht. Ich würde gern das Fenster öffnen, so weit es nur geht. Bald werden wir die Sommerkleider anziehen dürfen.
Die Sommerkleider sind ausgepackt und hängen im Schrank, es sind zwei, reine Baumwolle, was besser ist als Synthetik wie die billigeren, obwohl man selbst in den baumwollnen im Juli und August, wenn es schwül ist, schwitzt. Dafür braucht ihr keine Angst vor Sonnenbrand zu haben, sagte Tante Lydia. Wie die Frauen sich früher zur Schau gestellt haben! Eingeölt, wie ein Braten am Spieß, nackter Rücken, nackte Schultern, und das auf der Straße, in der Öffentlichkeit, und nicht einmal Strümpfe an den Beinen, kein Wunder, daß da diese Geschichten passierten. Geschichten – das war das Wort, das sie benutzte, wenn die Sache, für die es stand, zu unangenehm oder schmutzig oder gräßlich war, um über ihre Lippen zu kommen. Für sie war ein erfolgreiches Leben eines, das Geschichten vermied, Geschichten ausschloß. Solche Geschichten passieren anständigen Frauen nicht. Und gut für die Haut ist es auch nicht, überhaupt nicht, es macht euch runzlig wie einen vertrockneten Apfel. Dabei sollten wir uns doch gar keine Gedanken mehr über unsere Haut machen, das hatte sie vergessen.
Im Park, sagte Tante Lydia, da lagen sie manchmal auf Decken, Männer und Frauen zusammen! Und dabei fing sie an zu weinen, während sie vor uns stand, vor unser aller Augen.
Ich tue mein bestes, sagte sie. Ich gebe mir alle Mühe, euch zu den besten Chancen zu verhelfen, die ihr haben könnt. Sie blinzelte, das Licht war zu grell für sie, ihr Mund bebte um ihre Schneidezähne herum – Zähne, die ein wenig vorstanden und lang und gelblich waren, und ich mußte an die toten Mäuse denken, die wir oft auf unserer Türschwelle fanden, als wir zusammen in einem Haus wohnten, zu dritt, zu viert, wenn man die Katze mitzählt, die diejenige war, die diese Opfer darbrachte.
Tante Lydia preßte die Hand auf ihren Mund – den Mund eines toten Nagetiers. Nach einer Minute nahm sie die Hand wieder weg. Auch ich hätte am liebsten geweint, weil sie Erinnerungen in mir wachrief. Wenn sie wenigstens nicht schon vorher die Hälfte auffressen würde, sagte ich zu Luke.
Glaubt mir, für mich ist es auch nicht so einfach, sagte Tante Lydia.
Moira kam wie ein Wirbelwind in mein Zimmer und ließ ihre Jeansjacke auf den Fußboden fallen. Haste Zigaretten? fragte sie.
In meiner Handtasche, sagte ich. Aber keine Streichhölzer.
Moira wühlt in meiner Tasche. Du solltest einiges von diesem Müll rausschmeißen, sagt sie. Ich mach eine Reizwäsche-Party.
Eine was? frage ich. Es hat keinen Sinn weiterzuarbeiten, Moira läßt es nicht zu, sie ist wie eine Katze, die sich auf die Buchseite legt, wenn du versuchst zu lesen.
Weißt schon, wie eine Tupper-Party, nur mit Unterwäsche. Nuttenzeug, Spitzenslips, Strapse. Tittenheber. Sie findet mein Feuerzeug und zündet sich die Zigarette an, die sie aus meiner Tasche gezogen
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