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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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eigentlich? Auf einer Leiter heraufsteigen, um irgend etwas zu erbeuten. Unsere Unterwäsche.
    Früher war es ein gemischtes Studentenheim, für Jungen und Mädchen, in einer der Toiletten in unserem Stockwerk gab es noch Pissoirs. Aber als ich einzog, hatten sie die Jungen und Mädchen wieder getrennt gelegt.
    Der Kommandant bückt sich und steigt ins Auto, verschwindet, und Nick schließt die Tür. Einen Augenblick später fährt das Auto rückwärts die Einfahrt hinunter und auf die Straße und verschwindet hinter der Hecke.
    Ich müßte diesem Mann gegenüber Haß empfinden. Ich weiß, daß ich Haß empfinden müßte, aber ich empfinde keinen. Ich empfinde etwas, das komplizierter ist als Haß. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Liebe ist es nicht.
     

Kapitel elf
    Gestern morgen bin ich beim Arzt gewesen. Ich wurde von einem Wächter hingebracht, einem von denen mit der roten Armbinde, die für solche Dienste zuständig sind. Wir fuhren in einem roten Auto, er vorn, ich hinten. Kein Zwilling begleitete mich – bei solchen Gelegenheiten bin ich ein einzelnes Exemplar.
    Einmal im Monat werde ich zu Laboruntersuchungen zum Arzt gebracht: Urin, Hormone, Krebsabstrich, Blutsenkung; so wie früher, nur daß es jetzt Pflicht ist.
    Die Arztpraxis befindet sich in einem modernen Bürogebäude. Wir fahren mit dem Fahrstuhl hinauf, stumm, der Wächter mir gegenüber. In der schwarzen spiegelnden Wand des Fahrstuhls sehe ich seinen Hinterkopf. Wenn wir bei der Praxis ankommen, gehe ich hinein; er wartet draußen im Flur, mit den anderen Wächtern, auf einem der Stühle, die dort zu diesem Zweck aufgestellt sind.
    Im Wartezimmer sind noch andere Frauen, drei, alle rot gekleidet: dieser Arzt ist Spezialist. Heimlich mustern wir einander, taxieren gegenseitig unsere Bäuche: Hat eine von uns Glück gehabt? Der Sprechstundenhelfer gibt unsere Namen und die Nummern unserer Pässe in den Compudoc ein, um zu sehen, ob wir die sind, die wir sein sollten. Er ist an die einsneunzig groß, ungefähr vierzig und hat eine schräge Narbe auf der Wange; er sitzt da und tippt, seine Hände sind zu groß für die Tastatur, er trägt noch die Pistole im Schulterhalfter.
    Als ich aufgerufen werde, gehe ich durch die Tür ins hintere Zimmer. Es ist weiß, ohne besondere Merkmale, wie das vordere, mit Ausnahme einer spanischen Wand – roter Stoff auf einen Rahmen gespannt, mit einem gemalten goldenen Auge darauf und einem senkrechten, von einer Schlange umwundenen Schwert darunter, eine Art Griff. Die Schlangen und das Schwert sind Teile eines zerbrochenen Symbolismus, Überbleibsel aus der Zeit davor.
    Nachdem ich in der kleinen Toilette das für mich bereitgestellte Fläschchen gefüllt habe, ziehe ich hinter der spanischen Wand meine Kleider aus und lege sie zusammengefaltet auf den Stuhl. Dann lege ich mich nackt auf den Untersuchungstisch, auf das kühle knisternde Wegwerflaken. Ich ziehe das zweite Laken, aus Stoff, über mich. In der Höhe des Halses hängt ein anderes Laken von der Decke herab, so daß der Arzt mein Gesicht nicht sehen kann. Er hat es nur mit einem Torso zu tun.
    Als ich fertig bin, strecke ich die Hand aus, taste nach dem kleinen Hebel an der rechten Seite des Untersuchungstisches und ziehe ihn zurück. Irgendwo anders klingelt eine Glocke, die ich nicht höre. Kurz darauf öffnet sich die Tür, Schritte kommen herein, ich höre Atmen. Er darf nur mit mir sprechen, wenn es unbedingt nötig ist. Aber dieser Arzt ist redselig.
    »Wie geht's uns denn?« fragt er, eine Floskel aus der anderen Zeit. Das Laken wird von meinem Körper gehoben, ein Luftzug macht mir Gänsehaut. Ein kalter Finger, mit Gummi überzogen und eingecremt gleitet in mich hinein, ich werde gestoßen und betastet. Der Finger zieht sich zurück, dringt anders ein, zieht sich zurück.
    »Alles in bester Ordnung«, sagt der Arzt, wie zu sich selbst. »Haben Sie irgendwo Schmerzen, Herzchen?« Er nennt mich Herzchen.
    »Nein«, sage ich.
    Meine Brüste werden nacheinander befingert, die Suche nach Reife, Zerfall. Das Atmen kommt näher, ich rieche kalten Rauch, Rasierwasser, einen Hauch von Tabak auf Haar. Dann die Stimme, sehr leise, dicht an meinem Kopf: Das ist er, er zeichnet sich durch das Laken hindurch ab.
    »Ich könnte dir helfen«, sagt er. Flüstert er.
    »Was?« sage ich.
    »Schsch«, sagt er. »Ich könnte dir helfen. Ich habe auch schon anderen geholfen.«
    »Mir helfen?« sage ich mit ebenso leiser Stimme wie er. »Wie denn?« Weiß

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