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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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als hätte sie einen Witz erzählt.
    Cora hat das Badewasser einlaufen lassen. Es dampft wie eine Suppenschüssel. Ich ziehe meine übrigen Sachen aus, das Überkleid, das weiße Hemd und den weißen Halbunterrock, die roten Strümpfe, die lose sitzenden Baumwollunterhosen. Von Strumpfhosen kriegst du die Zwickelfäule, pflegte Moira zu sagen.  Tante  Lydia hätte einen Ausdruck wie Zwickelfäule niemals verwendet. Unhygienisch war ihr Wort. Sie wollte immer, daß alles sehr hygienisch war.
    Meine Nacktheit fängt schon an, mir fremd zu sein. Mein Körper kommt mir veraltet vor. Habe ich wirklich am Strand Badeanzüge getragen? Ja, das habe ich, ohne zu überlegen und mitten zwischen Männern, ohne mir Gedanken darüber zu machen, daß meine Beine, meine Arme, meine Schenkel und mein Rücken zur Schau gestellt wurden, gesehen werden konnten. Schändlich, unziemlich. Ich vermeide es, an meinem Körper hinunterzuschauen, nicht weil es schändlich oder unziemlich wäre, sondern weil ich ihn nicht sehen will. Ich möchte nicht ansehen, was mich so ganz und gar bestimmt.
     
    Ich steige ins Wasser, lege mich hinein, lasse mich davon umfangen. Das Wasser ist weich wie Hände. Ich schließe die Augen, und plötzlich ist sie bei mir, unversehens, es muß der Duft der Seife sein. Ich lege mein Gesicht an das weiche Haar in ihrem Nacken und atme sie ein, Babypuder und gewaschene Kinderhaut und Shampoo, mit einem Unterton, dem leisen Geruch von Urin. Das ist das Alter, in dem sie kommt, wenn ich in der Badewanne liege. Sie kommt in verschiedenen Lebensaltern zu mir. Daher weiß ich, daß sie kein Geist sein kann. Wenn sie ein Geist wäre, würde sie immer gleich alt sein.
    Eines Tages, als sie elf Monate alt war, kurz bevor sie zu laufen begann, stahl eine Frau sie aus meinem Supermarktwagen. Es war an einem Samstag, dem Tag, an dem Luke und ich die Wocheneinkäufe machten, weil wir beide berufstätig waren. Sie saß auf dem kleinen Babysitz, wie es sie damals an Supermarktwagen gab, mit Löchern für die Beine. Sie war kreuzfidel, und ich hatte ihr den Rücken zugedreht, in der Katzenfutter-Abteilung war es, glaube ich; Luke war drüben auf der anderen Seite, wo ich ihn nicht sehen konnte, am Fleischstand. Er suchte gern das Fleisch aus, das wir im Laufe der Woche essen würden. Er sagte, Männer brauchten mehr Fleisch als Frauen, das sei kein Aberglaube, und er sei doch kein Trottel, es seien Untersuchungen angestellt worden. Es gibt eben ein paar Unterschiede, sagte er. Er sagte das gern, als versuchte ich zu beweisen, daß es keine gebe. Aber hauptsächlich sagte er es, wenn meine Mutter da war. Er neckte sie gern.
    Ich hörte, wie sie anfing zu weinen. Ich drehte mich um und sah, wie sie den Gang hinunter entschwand, in den Armen einer Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Ich schrie, und die Frau wurde festgehalten. Sie muß um die fünfunddreißig gewesen sein. Sie weinte und behauptete, es sei ihr Kind, Gott der Herr habe es ihr geschenkt, er habe ihr ein Zeichen gegeben. Sie tat mir leid. Der Geschäftsführer entschuldigte sich und hielt sie fest, bis die Polizei kam.
    Sie ist nur verrückt, sagte Luke.
    Ich dachte damals, daß es ein Einzelfall sei.
     
    Sie verblaßt, ich kann sie nicht hier bei mir behalten, jetzt ist sie fort. Vielleicht stelle ich sie mir doch als Geist vor, als den Geist eines toten Mädchens, eines kleinen Mädchens, das starb, als es fünf war. Ich erinnere mich an die Bilder, die ich einst von uns hatte, auf denen ich sie hielt, Standardposen, Mutter und Kind, sicherheitshalber in einen Rahmen eingeschlossen. Hinter meinen geschlossenen Augen sehe ich mich selbst, so, wie ich jetzt bin, wie ich vor einer offenen Schublade oder einem Koffer im Keller sitze, wo die Babykleidung verstaut ist, eine Locke von ihrem Haar, abgeschnitten, als sie zwei war, in einem Umschlag, weißblond. Später wurde sie dunkler.
    Ich habe diese Sachen nicht mehr, die Kleider und die Haarlocke. Was wohl aus allen unseren Sachen geworden ist? Geplündert, weggeworfen, fortgetragen. Konfisziert.
    Ich habe es gelernt, auf viele Dinge zu verzichten. Wenn ihr viel besitzt, sagte Tante Lydia, dann bindet ihr euch zu sehr an die diesseitige, materielle Welt und vergeßt die geistlichen Werte. Ihr müßt die Armut im Geiste kultivieren. Selig sind die Sanftmütigen. Sie fuhr nicht fort, sagte nicht, daß sie das Erdreich besitzen werden.
    Ich liege, vom Wasser umspült, neben einer geöffneten Schublade, die nicht

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