Der Retuscheur
und ihn auch nicht. Lustlos brachte ich die zehnte Klasse hinter mich, kam mehr schlecht als recht durch die Abschlussprüfungen, versuchte es, eher dem Trägheitsgesetz gehorchend, mit den Aufnahmeprüfungen am Institut, wurde aber nicht genommen. Das Jahr vor der Armee arbeitete ich als Bote in dem Verlag meines Vaters, und in unverändert lethargischer Verfassung trat ich meinen Wehrdienst an.
In der Armee lebte mein Faible fürs Fotografieren wieder auf, das Motiv war allerdings reiner Selbsterhaltungstrieb: besser Fotograf beim Stab als durch den Dreck des Übungsgeländes robben. Wie sich herausstellte, war ich nicht umsonst bei meinem Vater in die Lehre gegangen, der Oberleutnant, der unter mehreren Bewerbern auszuwählen hatte, wurde auf mich aufmerksam, und ich tat in der Folge alles, um sein Vertrauen zu rechtfertigen. Ich fotografierte mit einer »Pentacon«, deren Filmtransportmechanismus nicht richtig funktionierte. Eine andere Kamera gab es nicht, mit der Reparatur kamen die Könner bei der Armee nicht klar. Auf eine gelungene Aufnahme entfielen fünf mit Mehrfachbelichtungen. Ich schrieb meinem Vater, er besuchte mich und gab mir genauso eine »Pentacon«, die kaputte nahm er mit. Meinen Vorgesetzten sagte ich, ich hätte die Kamera selbst repariert. Ich wurde befördert, dann noch einmal, bei der Entlassung hatte ich drei Beförderungen vorzuweisen. Die Brust voller Abzeichen, herausgefüttert mit Stabsverpflegung, mit der entsprechenden Visage. Nichts erinnerte mehr an den alten Genka Miller.
Am Tag nach meiner Rückkehr von der Armee ging mein Vater mit mir ins Restaurant. In das auf dem Wasser, gleich nebenan gelegene. Der zur Schulentlassungsfeier gekaufte Anzug war zu klein geworden, mit den viel zu kurzen Ärmeln fühlte ich mich sehr unbehaglich.
Meinem Vater hingegen stand sein hellgraues klein kariertes Tweedjackett gut. Wir saßen zu zweit am Tisch, mein Vater hielt den Kellner in Trab, warf mit Geld um sich. Er reagierte ziemlich befremdet darauf, dass ich mir, statt mich fürs Studium zu bewerben, lieber eine Arbeit suchen wollte.
»Wo?«, fragte er. »Und was für eine?«
»Als Fotograf«, antwortete ich. »Und du wirst mir helfen.«
Mein Vater beugte seinen Kopf über den Tisch, streckte eine Hand vor, nahm aus einem Schälchen eine Olive.
»Na schön«, sagte er, die Olive kauend. »Bloß komm mir hinterher nicht, gut?«
»Womit sollte ich dir denn hinterher kommen?«
»Das weiß ich auch nicht!« Mein Vater spuckte den Kern aus und sah mich an, genauso wie damals, als er seinen ehemaligen Kollegen erwartete. »Versprich mir, dass du mir hinterher nie etwas sagen wirst. Dass du mir keine Vorwürfe machst, mir keine Schuld gibst. Versprochen?«
»Versprochen!«, sagte ich achselzuckend.
»Dann ist es gut!« Und damit bestellte mein Vater Kaffee.
Das ist eigentlich die ganze Vorgeschichte. Die ganze, denn in den fast zwanzig Jahren, die seit jenem Abend in dem Flussrestaurant vergangen sind, ist eigentlich nichts Besonderes passiert, nichts, was Aufmerksamkeit verdienen würde. Ich habe versucht, den Moment einzufangen, mit dem Moment zu leben, doch erst jetzt ist mir aufgegangen, dass man in diesem Fall bloß Bilder und keinen Film des Lebens sieht. Der Vergleich mag stark übertrieben sein, aber das Leben ist eher ein Film als eine Abfolge von gelungenen, weniger geglückten oder einfach nur missratenen Bildern.
In dieser Zeit habe ich zweimal geheiratet und bin zweimal geschieden worden. Ein paarmal habe ich gutes Geld verdient, das mir schnell durch die Finger rann. Ein paarmal habe ich mich mit meinem Vater kräftig gekracht, und zwar so, dass ich glaubte, es hätte keinen Sinn mehr, dass wir uns sehen. Doch dann kam alles wieder ins Lot: Uns hielten feste Bande zusammen, und zwar nicht nur verwandtschaftliche.
Wir versöhnten uns, ich besuchte ihn wieder.
Bei ihm gab es überhaupt keine Veränderungen. Er mochte nach wie vor Restaurants, führte sein einsames Leben weiter. Nur dass er in Rente gegangen war. Seine Kameras und seine Technik wechselten allmählich in mein Studio über. Selbst das Stativ »Studio master«, das zerlegt unter seinem Bett gelegen hatte.
Offen gestanden, hätte ich nicht geglaubt, dass ich einmal Eigentümer eines solchen Reichtums sein würde. Blitzlampen von Metz, »Leitz«-Objektive, »Agfa«-Dosen. Das Vergrößerungsgerät »Prolab D-6«. Auch Fotografen aus seriösen Institutionen tranken leidenschaftlich gern einen über den
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