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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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der Zufall es so wollte, aus einem langen, schweren Traum im Abteil eines Erste-Klasse-Wagens zurückkehrte. Woher der Zug kam und wohin er fuhr, blieb unklar. Der Regen draußen machte alles schwarzweiß, oder das Schwarzweiß, das sich außerhalb des Zuges, von dem ich träumte, befand, zog die Regenfäden an. Zusammen mit mir saßen mein Vater und noch zwei Leute in dem Abteil, anscheinend Geschwister. Die beiden stritten laut über etwas, aber worum es sich handelte, war nicht zu verstehen – der Zug verlangsamte seine Fahrt, auf dem am Fenster vorbeigleitenden Bahnsteig blies in meinem Traum ein schwarzweißes Blasorchester dröhnend in sein Messing. »Vater!«, rief ich. »Worüber streiten sie? Wer ist das? Was ist das für eine Stadt da draußen?« Mein Vater, der bisher hinausgesehen hatte, wandte sich mir zu: Nach seiner verwunderten Grimasse zu urteilen, hatte auch er keine Ahnung.
    Da öffnete ich die Augen.
    Und schloss sie gleich wieder, als wollte ich meinen Traum zu Ende träumen. Doch der Traum war vorbei, und mit einer automatischen Bewegung streckte ich die Linke nach dem Glas mit Wasser auf dem neben dem Bett stehenden Nachtschränkchen aus. Die Augen weiterhin geschlossen, legte ich mich höher, drehte mich leicht herum, ertastete mit der anderen Hand die Alka-Seltzer-Tablette, bekam sie mit ungehorsamen Fingern zu fassen und warf sie in das Wasser.
    Und öffnete die Augen: Der Anblick der vom Grund des Glases aufsteigenden Bläschen und der kleiner werdenden Tablette verlieh mir jedes Mal das Gefühl, dass selbst der schlimmste Traum niemals Wirklichkeit würde.
    Ich wartete ab, bis sich die Tablette ganz aufgelöst hatte, und trank langsam das Wasser aus. Die Gasbläschen stiegen mir in die Nase, ich konnte einen lauten Rülpser nicht unterdrücken. Neben mir, unter der Decke hervor, erschien eine Hand: Am Ringfinger waren gleich zwei Trauringe, lange gepflegte Fingernägel, feine Äderchen unter der zarten, durchsichtig scheinenden Haut.
    »Du Ärmster!«, sagte Alina dumpf ins Kissen. »Hast du schlecht geschlafen?«
    »Schlecht? Nein, ich habe ausgezeichnet geschlafen. Bloß der letzte Traum. Ein irgendwie merkwürdiger Traum …« Mit der Rechten fing ich ihre Hand ein.
    Alinas Hand war warm und etwas feucht. Ich stellte mir vor, wie meine Lippen vom Handgelenk zum Ellbogen, vom Ellbogen zur Schulter wandern, wie sie Alinas Schlüsselbein ertasten, ihren Hals hinaufklettern, das kleine Grübchen an ihrem Kinn passieren und auf ihre weichen Lippen treffen würden.
    »Ich hatte auch einen merkwürdigen Traum.« Alinas Hand spannte sich leicht an. »Aber ich kann mich schon nicht mehr daran erinnern …«
    Sie schlug die Decke leicht zurück: Ihr Haar lag über das Kissen ausgebreitet, ihre Gesichtszüge erschienen wie zerknittert, die Flügel der schmalen Nase begannen zu vibrieren. Alinas Linke, als führe sie ein separates Leben, kroch, sich schlängelnd, auf meinen Bauch.
    »Erinnerst du dich noch an deinen Traum?«, wollte Alina wissen.
    »Noch ja«, erwiderte ich. »Aber bald werde ich ihn vergessen haben.«
    Alina spitzte die Lippen, blies mir auf die Brust, und der Luftstrom ließ mich erschauern. Ihre Hand ging zum Spitzentanz auf Fingernägeln über, glitt abwärts.
    »Nein«, sagte ich. »Ich muss aufstehen.«
    Mit einer heftigen Beinbewegung befreite sich Alina fast vollständig von der Decke: Ihre Brüste mit den prallen dunkelbraunen Warzen tauchten auf, ihr ovaler straffer Bauch, der obere haarige Rand des Venushügels.
    »Wie spät ist es?«, fragte Alina wie beiläufig.
    »Weiß nicht«, gab ich zu.
    »Es gibt kein Spät!« Sie schlang mir die Rechte um den Hals. »Es gibt kein Spät …«
     
    Unter der Dusche dachte ich über Alinas Worte nach. Während ich Wasser in meinen Mund fließen ließ und es in dünnem Strahl herausspritzte, wiederholte ich ihre Worte: »Es gibt kein spät, es gibt kein spät …« Doch Alinas unverwechselbare Intonation bekam ich nicht hin.
    Alina war kein einfaches Wesen. Wie ein anschmiegsames Kätzchen, das stets – jedenfalls bei mir – erreichte, was es wollte, hatte sie sich in mein Leben in dem neuen Studio eingeschlichen und sich ganz schnell alles untergeordnet. Oder kommt mir das nur so vor?, überlegte ich, während ich mein Gesicht wieder unter das Wasser hielt, und begann meinen Waschlappen einzuseifen.
    »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich bei dir für ein paar Tage einniste?«, hatte Alina ohne alle Umschweife gefragt,

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