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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Minajewa und klappte den Deckel des Diplomatenkoffers zu. »Übernehmen Sie die Sache?«
    »Ich kann die Neuaufnahmen besorgen, Kolja«, sagte ich, ohne Minajewas Worte zu beachten. »Ich fahre hin, wenn es sein muss, und mache neue Fotos. Das wird preiswerter … Es ist ja eine teure Arbeit.« Ich sah Minajewa an. »Haben Sie die Negative bei sich?«
    »Sie sind im Kuvert.«
    Ich entnahm dem großen Kuvert ein kleineres und schüttelte die Negative auf den Tisch.
    »Genosse, du bist die letzte Hoffnung«, sagte Kulagin. »Der Kunde ist aus einer anderen Stadt hergekommen, es handelt sich um eine solide, finanzkräftige Firma. Ihr Fotograf hat die Negative schlecht getrocknet. Wem kann so etwas nicht passieren, stimmt’s, Genosse?«
    »Mir passiert so etwas nicht«, sagte ich und sah mir die Negative genauer an.
    Hinter meinem Rücken ging die Badtür auf. Ich drehte mich um: In einem zu großen Morgenrock war Alina herausgekommen.
    »Kolja!« Alina strich sich die Haare aus der Stirn und lächelte. »Grüß dich!« Sie hüllte sich fester in den Morgenrock, ging zum Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich.
    »Ich übernehme den Auftrag«, sagte ich.
    Kulagin, außerstande, seine Freude zu verbergen, lächelte breit und zeigte lückenhafte, lange weiße Zähne.
    »Was wird das kosten?«, erkundigte sich Minajewa.
    Ich wies mit dem Kopf auf den strahlenden Kulagin:
    »Das besprechen Sie mit ihm. Auf Wiedersehen!«
    »Genosse! Ich wollte bloß …«, setzte Kulagin an.
    »Später, Kolja, später!« Ich nahm die Kugel vom Tisch, warf sie hoch und fing sie geschickt auf. »Ruf mich nach drei an. Bis dann!«
    Ich komplimentierte sie hinaus, schloss sorgfältig die Tür ab und kehrte zum Tisch zurück.
    Von draußen war zu hören, wie Kulagin den Wagen anließ, hinter mir knarrte die Schlafzimmertür. Ich wandte mich um: Alina hatte sich des Morgenrocks entledigt und stand in der Türöffnung.
    »Ich habe Hunger und Durst«, sagte sie.
    »Zieh dich an«, sagte ich. »Zieh dich an, wir fahren wohin.«
    »Was ist das für eine Schnepfe?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Von Kolja?«
    »Kaum … Woher kennst du eigentlich Kulagin?«
    »Also wird sie dir gehören?«, wollte Alina wissen, statt meine Frage zu beantworten.
    Ich nahm das Badetuch ab und zwängte mich an Alina vorbei ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen.
    »Ich bitte dich! Hör auf!«, sagte ich, während ich in die Socken schlüpfte.
    »Ich habe noch mit gar nichts angefangen«, sagte sie, ohne ihre Pose zu ändern.
    »Na wunderbar! Komm, zieh dich an!«
     
    Im Restaurant machte Alina weiter mit ihren Spielchen. In der Linken das Weinglas, benutzte sie die Gabel als Hockeyschläger, um ein Fleischstückchen auf ihrem Teller hin und her zu treiben. Sie war konzentriert, brummelte etwas vor sich hin, runzelte ihre gezupften Augenbrauen.
    Ich beobachtete sie verstohlen und fand mich zum wiederholten Male darin bestätigt, dass man sich keinen größeren Blödsinn hätte ausdenken können als die Deklaration der absoluten Individualität und Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen. Alle waren in einem Maße gleich, dass ihre Ähnlichkeit, ja Identität einen trübsinnig machte. Ihre Verhaltensweisen, ihre Manieren, vertraut, vorhersehbar, ließen sich kaum auseinanderhalten. Geringfügige Unterschiede in den Gesten, das, was manchen als das Kernstück menschlicher Eigentümlichkeit erschien, war in Wirklichkeit leicht zu klassifizieren.
    Alina sah mich flüchtig an, lächelte wie gekränkt, senkte wieder die Augen. Vielleicht saß ja bei ihr, wie bei jedem beliebigen anderen Menschen, irgendwo tief innen ihre unverwechselbare, einzigartige Natur, doch war zu ihr kein Vordringen möglich, und streng genommen barg ihre Unverwechselbarkeit auch nichts Neues.
    Ich versuchte mich zu erinnern, wer von denen, die mir begegnet waren, den allgemeinen Rahmen sprengte, wer etwas Besonderes, eine Ausnahmeerscheinung darstellte. Nein, so etwas gab es nicht. Nichts als Leute, zu denen ich, genauso einer wie alle Übrigen, ein eigenes, persönliches Verhältnis hatte. Zum Beispiel Lisa, doch auch sie, mein Verhältnis zu ihr und meine Erinnerung an sie waren nichts, worauf ich allein verweisen konnte: Ähnliches kam Tausende Male vor, wiederholte sich mit geringfügigen Variationen, fügte sich leicht ins Gesamtbild ein.
    Alina ließ die Gabel fallen, nahm einen Schluck aus ihrem Glas, sah mich über den Rand hinweg an, trank den Wein in Schlückchen aus und stellte das Glas auf

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