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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Beisammenseins standen mein Vater, der sich über Bilder und Rhythmen in der Landschaft ausließ, und eine gewisse Person, die mir, nachdem sie sich meine letzten Arbeiten angesehen hatte, zuhauchte:
    »Sie sind der seelenloseste Mensch, den ich kenne!«
    Sie war mittelgroß, ihre Nasenflügel blähten sich, ihre Augen tasteten mein Gesicht ab, mit ihrem straffen Busen drängte sie mich von den Gästen weg, in eine Ecke, und redete, redete, redete. Ich sah, über ihren Kopf hinweg, nach meinem Vater. Er stand am Fenster mit einem Glas Kognak, die Zuhörer scharten sich um ihn. Mein Vater sprach ziemlich leise, lispelte leicht – die letzte Brücke, die er sich hatte machen lassen, saß schlecht – und zog dennoch die Aufmerksamkeit meiner Gäste auf sich.
    »Alles auf dieser Welt kann man nach dem Prinzip Armut/ Reichtum einteilen«, sagte mein Vater, »die Kunst auch. Einige Kunstgenres sind in rhythmischer Hinsicht arm, andere reich. Da, wo die Zeit in den Vordergrund tritt, sagen wir, in der Musik, in der Lyrik, dominiert eine rhythmische Linie. In der Malerei und Fotografie dagegen, wo der Raum im Vordergrund steht, gibt es eine Vielzahl rhythmischer Linien, und jede lebt ihr eigenes Leben. Deshalb ist die Fotografie eine rhythmisch reichere Kunst als die rhythmisch einlinige Musik.«
    Vor der busigen Person zurückweichend, zeigte ich meinem Vater den erhobenen Daumen und grinste, doch er sah mich an, als wäre ich Luft, und fuhr, ohne auf irgendwelche Einwände zu hören, fort:
    »Vor allem kann der Fotograf von sich aus Rhythmen einbringen, selbst dann, wenn im Objekt ein Rhythmus fehlt oder schwach ausgeprägt ist. Zum Beispiel ist bei Naturaufnahmen das Wichtigste, der Himmel, oft völlig ausdruckslos, was das Bild rhythmisch arm macht. Deshalb hat der weitsichtige Fotograf schon seit dem vorigen Jahrhundert stets gesondert aufgenommene Wolken in Reserve, und er versteht es, sie in die fertige Komposition einzufügen. Deshalb …«
    Das Weitere hörte ich nicht, weil die Busige erreicht hatte, was sie bezweckte – sie drängte mich aus dem Studio hinaus ins Arbeitszimmer, einen kleinen, noch nicht eingerichteten Raum, wo auf der einen Seite unausgepackte Bücherkisten standen und auf der anderen leere Bücherregale.
    »Von Ihnen geht Kälte aus!«, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte mich zu umhalsen. »Ich will Sie aufwärmen. Ich will Ihnen helfen. Sie können erfrieren. Kommen Sie zu mir, kommen Sie!«
    Sie drückte mich gegen die Kisten, brachte mich dazu, mich draufzusetzen, verdeckte mein Gesicht mit ihrem Busen.
    »Ach!«, sagte sie. »Ach …!«
    Es gelang mir, sie wegzuschieben, ich sah sie von unten her an und fragte:
    »Warum soll ich seelenlos sein?«
    »Verstehst du das nicht?« Sie rückte wieder näher heran. »Nein? Du bumst doch deine Modelle! Ihre Seele ist für dich bedeutungslos! Von Bedeutung ist für dich allein ihr Körper!« Sie kauerte sich hin, ihre Brüste wogten auseinander, befreit hüpfte der zwischen ihnen hängende Anhänger ein paarmal hoch, doch dann klebte er wieder an der schweißigen Haut. »Oh, du Seelenloser!«
    Ich überlegte träge, es könnte durchaus passieren, dass ich am Morgen mit dieser Frau in einem Bett aufwachte.
    »Ich will dir Modell sitzen!«, sagte sie. »Ich will beweisen, dass es die Seele gibt, dass das Modell mehr ist als einfach ein Modell.«
    Ich unterdrückte ein Gähnen, gab ihr einen Kuss auf die süßsalzige Wange und bat sie, Zigaretten zu holen. Sie lief mit wackelndem Hintern bereitwillig aus dem Arbeitszimmer, während ich, nachdem ich sie verschaukelt hatte, zu meinen Gästen zurückkehrte. Mein Vater schwadronierte immer noch:
    »Die räumlichen Rhythmen muss man aufbauen. Die Dynamik hängt vom Übergang des Sehens von Ebene zu Ebene ab, von Gegenständen der einen zu Gegenständen der nächsten Ebene …«
    Er zwinkerte mir zu und wies mit den Augen zur gegenüberliegenden Seite des Studios: Meine Busige stand dort mit demselben verzückten Gesichtsausdruck, mit dem sie mich der Seelenlosigkeit bezichtigt hatte, und redete auf einen der Gäste ein. Mir wurde klar, dass ich am Morgen allein aufwachen würde.
     
    Etwas war an ihren Worten doch dran: Einige meiner Modelle wurden tatsächlich mehr als bloße Modelle und quartierten sich sogar bei mir ein. Eine von ihnen, die etwa zwei Wochen nach der Einzugsfeier auftauchte, hieß Alina.
    Alinas Körper und nicht der der Busigen lag neben dem meinen, als ich, wie

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