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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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den Tisch.
    »Was guckst du so?«, fragte sie. »Gieß lieber noch was ein! Irgendwie habe ich in letzter Zeit immerzu Lust, mir einen anzutrinken.«
    Ich legte gehorsam die Gabel weg, nahm die Flasche und schenkte Alinas Glas voll.
    »Und dir?« Alina zog die Brauen hoch. »Willst du nicht trinken?«
    »Ich muss mich wieder ans Steuer setzen …«
    »Na, jetzt gleich ja nicht …« Alina hob das Glas an den Mund. »Ach, egal ob du trinkst oder nicht … In letzter Zeit … Ja, seit etwa fünf Jahren. Oder noch mehr. Ich habe Lust, mir einen anzutrinken. Abzuschalten. Nichts zu sehen. Nichts zu hören. Nichts zu wissen. Vielleicht möchtest du Wasser? Ja? He, Ober! Ober!«
    »Schrei nicht so!« Ich ließ meinen Blick durch den halb leeren Raum schweifen. »Ich habe Wasser bestellt.«
    »Und warum bringen sie es nicht? Ooober! He!«
    Man wandte sich nach uns um. Aus der Tiefe des Raums tauchte ein Kellner auf – ein kräftiger, baumlanger Kerl mit pomadisiertem Haar und Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart. Den Kellner betrachtete Alina mit offenkundigem Wohlgefallen.
    »Sagen Sie, warum bringen Sie kein Wasser?«, fragte sie kapriziös.
    »Pepsi?« Der Kellner beugte sich zu Alina herab.
    »Mineralwasser«, sagte ich.
    »Ja! Mineralwasser!«, bestätigte Alina. »Und noch ein Fläschchen Wein!«
    Der Kellner sah mich fragend an. Ich nickte.
    »Zwei! Zwei …« Alina baute den Erfolg aus. Nachdem ich ein zweites Mal genickt hatte, ging der Kellner davon.
    »Was ist mit deiner Erziehungsaktion?«, fragte Alina. »Du, Genosse, wie dich Kulagin nennt, bist doch zu der Überzeugung gelangt, dass ich eine Alkoholikerin bin. Nicht wahr? Genrich! Warum bist du bloß so langweilig?«
    »Langweilig?«, fragte ich zurück.
    »Schrecklich, schrecklich langweilig! Und bitte, Genrich, sei doch nicht so schweigsam!«
    »Bin ich das?«
    »Du hast alles satt, wie? Freu dich doch wenigstens über etwas! So ein schmackhaftes Essen, so ein wundervoller Tag, es war so eine wundervolle Nacht. Und der Wein schmeckt so gut!«
    Der Kellner war wieder da und stellte zwei Flaschen Wein und eine Flasche Mineralwasser auf den Tisch.
    »Aufmachen?«, fragte er.
    »Aufmachen!«, bestätigte Alina.
    »Wird noch etwas gewünscht?«
    »Nichts! Geh, geh!« Alina fletschte die Zähne, wartete, bis der Kellner weg war, beugte sich leicht vor und schnippte das am Tischrand liegende schwarze Kuvert an.
    »Wozu hast du das mitgenommen?«, wollte sie wissen. »Schleppst du immer deine Arbeit mit dir rum? Als ob du zu ihr Zugang finden, dich mit ihr anfreunden möchtest. Sie ist für dich kostbarer als alles auf der Welt, ohne sie kannst du nicht, wie? Sie ersetzt dir alles, stimmt’s, Genrich?« Alina holte tief Luft und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Du wirst diesen flachen Fotogestalten bestimmt bald Volumen verleihen können. Machst es so …« Sie spitzte die Lippen und atmete laut aus. »Beginnst ihnen eine Seele einzuhauchen. Nimmst sie bei dir auf. Hier in diesem Kuvert sind übrigens einfach hinreißende Nutten. Eine von ihnen ist deine Auftraggeberin. Hast du’s gemerkt? Dieses strenge Kostüm ist so abträglich für sie! Führt geschäftliche Gespräche, inszeniert Werbekampagnen – und dann! Wenn sie ihre Uniform abwirft, wenn sie sich entblößt, wenn sie … Hör mal, vielleicht hast du mich über? Genrich! Gena! Sag’s ruhig!«
    »Nun reicht’s wohl!« Ich konnte keine Szenen ertragen, bei denen, unabhängig von den Akteuren, alles im Voraus durchgespielt war. »Hör auf! Ich habe dich nicht satt, aber …«
    »Siehst du – ›aber‹! Aber!« Sie füllte sich das Glas voll und leerte es in einem Zug. »Na schön, lassen wir meine Person. Sag mir lieber – wozu hast du diese Arbeit übernommen? Du bist doch kein Retuscheur! Du bist ein Fotograf, ein Künstler. Du bist ein Meister deines Faches! So äußern sich jedenfalls viele über dich. Und plötzlich lässt du dich auf Handwerkelei ein. Wieso das?«
    »Das ist nicht deine Sache«, sagte ich. »Deine Sache ist es, Modell zu sitzen, dafür Geld zu erhalten und keine Fragen zu stellen!«
    Ja, so hätte ich mit Alina nicht reden sollen, aber allmählich brachte sie mich auf die Palme.
    Alina nahm ihre Serviette, wischte sich die Lippen, warf die Serviette auf den Tisch, stand auf und griff nach ihrer an der Stuhllehne hängenden Handtasche.
    »Auf das Dessert verzichte ich wohl lieber!«, sagte sie. »Leb wohl!«
     
    Ich sah Alina nach: Leichten Schritts entfernte sie sich auf dem Gang

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