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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Gedanken fassen, alles tut mir weh, mir ist übel, ich bin müde, ich kann ja auch sterben. Sie musste ihn schonen. Sie half ihm zum Bett hinüber, half ihm beim Ausziehen, legte ihn hin.
    Ich kann mir nicht vorstellen, nein, ganz und gar nicht, dass mein Vater trotz seines Alters nicht nach ihrem Hintern gelangt, ihn nicht wenigstens zu tätscheln versucht hatte, um unter seiner Greisenhand voller Pigmentflecke die Hitze ihrer Gesäßbacken, ihre nachgiebige Straffheit zu spüren. Ihr an die Wäsche zu gehen, dürfte er keinen Versuch gemacht haben, aber nach den Blicken zu urteilen, die er auf ihre prallen Brüste geworfen hatte, war auch das durchaus denkbar, gar zu zielgerichtet war sein Blick gewesen.
    Allerdings vermute ich jetzt, dass sie ihre Brüste zu dem Zeitpunkt auch schon mir darbot. Sie wusste, ja ahnte noch nichts, traf aber bereits ihre Vorbereitungen.
    Natürlich! Und ob mein Vater es versucht hat, doch ihm war die Bedingung gestellt worden: »Du tust, was dir gesagt wird, und erhältst Zugriff auf diesen Körper.« Anders ließ er sich ja nicht zwingen. Mein Vater war gefügig gemacht worden.
     
    Also – das Schummerlicht des Schlafzimmers. Das Eisenbett mit der superharten Sprungfedermatratze. Das Licht der Nachttischlampe bricht sich in den vernickelten Verzierungen des Kopf- und Fußteils. Daneben der Nachttisch. Sie berührt das auf ihm stehende Wasserglas – darin das Gebiss meines Vaters –, lauscht auf seinen schweren Atem.
    Ob mein Vater mit ihr seinen Schabernack trieb, oder schlief er wirklich?
    Wie dem auch sei, sie beugt sich über ihn, zieht die Decke zu recht, richtet sich auf, und bevor sie das Schlafzimmer verlässt, blickt sie noch einmal prüfend zu ihm hinüber, als wollte sie sagen: »Du entkommst mir sowieso nicht!«
    Dann die Nacht. Draußen – das Panorama der Stadt, durch das Gitter in Quadrate eingeteilt. Sie sitzt in der Küche und raucht, aus dem Schlafzimmer ist die schwache Stimme meines Vaters zu hören, unterbrochen von schwerem Husten.
    »Tanja! Tanja!«
    Sie scheint nicht zu hören, nimmt einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette, legt die Füße auf das Fensterbrett. Die Uhr schlägt. Und wieder:
    »Tanja …«
    Nur noch schwächer.
    Sie stößt Rauch aus, der in einem dichten Faden zur Lüftungsklappe zieht. Unten auf der Uferstraße hält mit kreischenden Bremsen ein Auto. Zwei Wagentüren schlagen, Frauenabsätze klappern über den Asphalt, Männerschuhe schlurfen hinterher.
    »Bleib stehen, du Aas!«, zischt der kaum hinterherkommende Mann. »Halt, du Biest!«
    Tatjana tut noch einen Zug, nimmt die Füße vom Fensterbrett, steht auf, sieht zum Fenster hinaus. Am Bürgersteig – ein langer silbriger Wagen, an der Brüstung – ein Pärchen. Unklar, ob sie sich küssen oder in einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod aneinandergeraten sind.
     
    Am Morgen dann kam es zur Aussprache zwischen ihr und meinem Vater. Er unternahm einen letzten Versuch, sie zu überzeugen, dass es sich um einen Irrtum handele, dass der Wunsch für die Wirklichkeit ausgegeben werde – ein eher mechanischer Versuch in Katerstimmung. In einem langen Frotteemantel, ein Seidentuch um den Hals geschlungen, kam er aus dem Badezimmer, wo er mit einer Bürste seine kümmerlichen Haare an den Schläfen geglättet hatte, und blieb vor der Küchentür stehen.
    Er hatte schon lange gehört, dass Tanja aus dem Laden zurückgekommen war, aber die ganze Zeit Anlauf genommen, seine Kräfte gesammelt. Nun endlich stieß er die Tür auf und sah sie vor sich, wie sie die Einkäufe aus der Tasche auf den Küchentisch packte.
    »Guten Morgen, Tanetschka!«, sagte er, doch sie gab keine Antwort.
    Ohne sich umzudrehen, öffnete sie den Kühlschrank, um die eingekauften Sachen hineinzutun.
    »Tanja! Ich wollte … Kurz gesagt …«, setzte mein Vater an. »Du musst verstehen … Mir geht es schon wesentlich besser, ich kann auch allein …«
    »Hausmacherkäse gab es nicht. Ich habe Quark gekauft«, sagte sie.
    »Prima!« Er trat einen Schritt vor und legte die Hand auf die Kühlschranktür. »Quark, das ist prima, aber ich wollte mit dir reden …«
    »Über die Schlüssel.« Auf ihrem von dem in die Stirn fallenden dichten, so zauberhaft duftenden Haar halb verdeckten Gesicht erschien ein schwer zu deutendes Lächeln.
    »Manchmal habe ich den Eindruck, dass du Gedanken lesen kannst«, sagte mein Vater und setzte sich auf einen Stuhl. »Ja, Tanja, ich möchte, dass du mir die Schlüssel zurückgibst. Ich

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