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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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der Aufnahme Minajewas an mich, stieg die Stufen hoch und streckte die Hand nach dem Klingelknopf aus, bemerkte aber, dass das Fensterchen in der Tür, durch das für gewöhnlich mein Nachbar, der Rausschmeißer, die Besucher musterte, leicht geöffnet war.
    Ich drückte gegen das Fensterchen, und es ging ganz auf.
    Als ich drinnen etwas zu erkennen suchte, stellte ich fest, dass auch die Tür nicht geschlossen war. Ich stieß sie mit der Schulter auf und trat ein, der Türschließer ließ sie hinter mir zufallen.
    In der Eingangshalle des Restaurants war es für die abendliche Stunde ungewohnt still. Kein Mensch zu sehen. Ich registrierte, dass die Beleuchtung nicht ganz ausgeschaltet war, rechts von der Tür brannte über einem Tischchen eine Wandlampe.
    Beim ersten Schritt in Richtung Restaurantsaal trat ich auf etwas. Ich zog den Fuß zurück: Auf dem Fußboden lag eine Patronenhülse.
    Ich hob sie auf. Sie roch nach Pulver und war noch warm. Beim genaueren Hinsehen bemerkte ich, dass der Boden mit Hülsen übersät war.
    Rechts von mir seufzte jemand schwer auf. An dem Tischchen, an dem der Rausschmeißer manchmal saß und den Empfangschef spielte, sah ich jemanden sitzen – ja, er war es. Die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine ausgestreckt.
    Seine blicklosen Augen waren auf mich gerichtet.
    »Grüß dich, Stas!«, sagte ich, während ich die Hülse mechanisch in meine Tasche steckte.
    Statt zu antworten, krümmte er seinen Körper und kippte zur Seite, sein Kopf schlug dumpf auf dem Boden auf, er zuckte und erstarrte.
    Das Foto fiel mir aus der Hand, mit wenigen Sätzen war ich bei Stas und wälzte ihn herum. Der Bauch meines Nachbarn war regelrecht mit Kugeln gespickt.
    Ich sah mich um und bemerkte, dass die Toilettentür nicht ganz geschlossen war. Ich trat näher: Das Hindernis war das Bein eines am Boden Liegenden. Ich stieß die Tür auf.
    Die Wände der Toilette waren blutbespritzt, der Mann auf dem Fußboden war tot. Ich hockte mich vor ihm nieder. Ein Feuerstoß aus einer Maschinenpistole war auf ihn abgegeben worden, kreuzweise über seine Brust. Dann entdeckte ich einen zweiten Toten: Er lag in einer der Kabinen und hatte in einer letzten Bewegung seines Lebens das Toilettenbecken umfasst; in dem mir zugewandten Hinterkopf war ein Einschussloch zu sehen.
    Hier gibt es nichts mehr zu tun!, überlegte ich. Nur schnell weg! Doch statt zum Ausgang zu stürzen, ging ich weiter.
    Im Restaurantsaal waren Tische umgestürzt, auf dem Fußboden lagen Tote und Verletzte. Einer von ihnen drehte sich, nach Luft schnappend, um, als er meine Schritte hörte, sah mich an und streckte wie zum Schutz seinen blutverschmierten Arm vor.
    Ich stand wie versteinert, riss mich dann jedoch zusammen, ging an dem Verletzten vorbei und hielt an der Bar inne. Hier lag, das Gesicht nach unten, in einer Blutlache noch ein Toter.
    Ich bemerkte auf der Theke ein hohes Bierglas, in dem sich langsam der Schaum setzte. Ich griff nach dem Glas, hob es an die Lippen und nahm einen langen Zug.
    Vorzügliches Bier!
    Als ich das Glas zurückstellte, fiel mein Bück auf einen neben dem Podium für die Musiker hingestreckten Mann im weißen Anzug. Es war mein Auftraggeber.
    Ich holte das fallen gelassene Foto, trat zu dem Toten und blieb stehen.
    Bei dem Restaurantbesitzer hatte eine Kugel genügt, ein Herzschuss, der Schütze konnte sich erlauben, auf den Luxus eines zweiten Schusses zu verzichten. Der Blick der verschleierten Augen war zur Decke gerichtet, das rechte Bein angewinkelt.
    Nach kurzem Schwanken lehnte ich den ausgeführten Auftrag gegen sein Bein. Von dem leichten Druck sank es langsam um, der Rahmen schlug mit einer Ecke auf dem Fußboden auf, zerbrach und fiel auseinander.
    Eine solche absolute Gleichgültigkeit hatte ich noch nie verspürt. Alles ringsum erschien mir irreal, eine Spielzeugwelt. Um mich herum lagen Puppen. Ich stieg über sie hinweg, um zur Bar zurückzukehren, nahm das Glas, trank, während ich mich umblickte, das Bier aus, und erst da fiel mir das Kuvert mit dem Minajewa-Foto ein.
    Minajewa lag zusammengekrümmt unter einem Tisch. Der ihr vom Fuß gerutschte Schuh war noch warm wie die Patronenhülse. Offenbar hatte sie sich sehr gelangweilt, allein hier zu sitzen: Neben ihr lag, die glasigen Augen zur Decke gerichtet, einer, der ihr die quälende Wartezeit hatte verkürzen dürfen. Auch er war tot. Auf dem Tisch stand ein Kübel mit einer Sektflasche, von dem einen der beiden Gläser war nur der

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