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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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eifersüchtig?«
    »Wer denn noch?«, fragte sie verwundert.
    »Kulagin.«
    »Schmeiß mich nicht mit ihm in einen Topf!« Alinas Hand durchschnitt die Luft. »Ich bin nicht eifersüchtig! Auf wen?! Worauf sollte ich eifersüchtig sein?! Wer bin ich für dich?! Aber du bist in letzter Zeit nicht bloß übermüdet. Übergeschnappt bist du. Durchgeknallt!« Und sie ließ das Negativ mit einer geschmeidigen Körperbewegung durch das Studio segeln.
    Ich verfolgte seinen Flug, wartete, bis es auf dem Fußboden landete, und sah Alina an.
    »Durchgeknallt bin ich?«, wiederholte ich.
    »Ja!« Sie drehte den Finger an der Schläfe. »Durchgeknallt!«
    Ich warf das Handtuch beiseite und ging langsam um den Tisch herum. Alina ging in derselben Richtung. Ich rannte los. Alina rannte gleichfalls. Plötzlich stoppte ich und lief in die entgegengesetzte Richtung, doch auch sie änderte ihren Lauf. Ich blieb stehen.
    »Du glaubst, ich bin verrückt?«, fragte ich.
    »Natürlich!«, erwiderte sie. »Natürlich! Zweifelst du daran?«
    Ich stand vor ihr, nackt. Kümmerliche Muskeln, eine fast unbehaarte Brust, blasse Haut. Sie lächelte ironisch, ich hob das Handtuch auf und wickelte es mir um die Hüften. Sie lächelte wieder: Das war es nicht, was sie erwartet hatte.
    »Das kannst du nicht begreifen!« Ich setzte mich auf einen Stuhl und betrachtete ihr Gesicht jetzt von unten nach oben: Kinn, Nase, Wimpern – eine prächtige Perspektive. »Das lässt sich nicht erklären. Ich fühle, dass mit ihnen allen etwas vor sich geht. Sie wollen nicht. Die Spur, die sie hinterlassen haben – die gehört ihnen, ihnen allein und sonst niemandem. Und ich – ich fahre zwei-, dreimal mit dem Schaber drüber, und der Mensch ist weg. Er verschwindet. Kommt um. Und ich bin die Ursache seines Todes.«
    »Er verschwindet?«, fragte sie mit schlecht verhohlener Gereiztheit.
    »Ja, vom Negativ. Ich male den leeren Fleck zu.«
    »Hast du nicht versucht, an seiner Stelle einen anderen reinzumalen? So einen …« Sie begann Fratzen zu schneiden.
    »Wozu?«
    »Um endgültig zum Missetäter zu werden. Du sagst: ›Ich bin die Ursache seines Todes.‹ Werde doch zur Ursache von Leben.« Sie schnitt weiter Fratzen, ging um den Tisch herum, beugte sich über mich und gab mir einen raschen Kuss. »Setz alle möglichen Monster in die Welt. Male sie an den leeren Stellen rein, sie werden zum Leben erwachen und zu dir zu Besuch kommen. Um ihrem Schöpfer zu danken!«
    »Da ist gar nichts Komisches dabei!«, sagte ich. »Ich habe dir erzählt, dass ich so ein Gefühl habe. Nimm Andronkina, die ich selbst fotografiert und weggeschabt habe. Es vergehen ein paar Wochen, und ich werde gebeten, ein Foto für ihren Grabstein zu machen! Zufall? Kann sein, aber solche Zufälle … Möchtest du Kaffee?«
    Statt darauf zu antworten, griff sie sich den Schaber und richtete ihn mit einer raschen Bewegung auf das Negativ mit Minajewa.
    »Willst du es versuchen?« Ich sprang auf und packte ihr Handgelenk. »Das wird bloß nichts bei dir. So macht man das …« Ich nahm ihr den Schaber ab, entfernte Minajewa, und dann schabte ich auf dem Negativ des Restaurantbesitzers einen nach dem anderen weg.
    Alina riss sich los, und ich führte das Begonnene ruhig zu Ende.
    »Jetzt bleibt nur noch abzuwarten. Die Ergebnisse werden sich bald einstellen«, sagte ich, zu ihr gewandt.
    »Du bist krank!«, sagte sie und ging zum Ausgang des Studios. An der Tür hielt sie inne. »Geh zum Arzt!«
     
    Im Restaurant traf ich am späten Abend ein.
    Die arme Minajewa wusste sicherlich nicht, was sie davon halten sollte, aber die Wiederherstellung des beschädigten Negativs hatte viel Zeit in Anspruch genommen, und außerdem wollte ich sie ein bisschen schmoren lassen.
    Diese Frau interessierte mich überhaupt nicht, gewissermaßen dem Trägheitsgesetz gehorchend, ließ ich mich treiben, machte mit dem einmal Begonnenen einfach weiter. Um ehrlich zu sein, brauchte ich überhaupt niemanden mehr. Ausgenommen die so unverhofft bei meinem Vater aufgetauchte erwachsen gewordene Lisa, diese Tatjana.
    Kurz vor dem Restaurant, auf der Straße durch den Park, musste ich mich ganz rechts halten, um zwei mir entgegenkommende Autos durchzulassen. Vollgestopft mit aufgekratzten jungen Leuten – ich sah lauter kahl geschorene Nacken –, schössen sie an mir vorüber. Die scheinen sich ja gut amüsiert zu haben, dachte ich, stellte meinen Wagen auf dem Parkplatz ab, nahm das neue gerahmte Foto und das Kuvert mit

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