Der Retuscheur
dünne Stiel übrig geblieben, das zweite, mit Spuren von Minajewas Lippenstift, war leer.
Ein Glas Sekt vor dem Tod. Rollei, Rolex, Rolls-Royce.
Da wurden in der Restauranthalle stampfende Schritte hörbar. Mir blieb gerade noch die Zeit, mich aufzurichten: In den Saal stürmten ein paar kräftige Kerle mit MPis.
»Stehen bleiben, eh! Stehen bleiben!«, brüllte mir einer von ihnen, mit Tarnanzug und Maske, zu, ging leicht in die Hocke und knallte mir von unten seine MPi gegen den Backenknochen.
Im Hinfallen hörte ich, wie der Kerl, der mich niedergeschlagen hatte, wieder brüllte:
»Hände, eh, Hände!«
Anscheinend brüllte er mir das zu.
Was wollte er noch von mir! Ich stürzte bereits ins Leere.
Eigentlich war das alles der Weg zu ihr.
Es mag hochtrabend, anmaßend klingen, aber ich bin versucht zu sagen – der Weg der Verführung und Sünde. Ich wusste, sie würde zurückkommen, und das bedeutete, dass es für uns ein Wiedersehen gab. Egal unter welchen Umständen, egal wann. Ich wusste es die ganze Zeit, selbst an jenem Abend, als Lisa auf dem feuchten Flusssand lag, so bleich, so leuchtend.
Wie sich herausgestellt hatte, war es wesentlich leichter, die menschliche Brust zu durchstoßen und mit der Messerspitze bis zum Herzen vorzudringen, als manchmal mit dem Messer ein Stückchen kalte Butter aus der Dose herauszukriegen.
Bald loderte das niederbrennende Feuer beinahe weiß auf, bald sank es rot in sich zusammen. Wenn die Flamme hochschoss, verdichtete sich die Dunkelheit ringsum.
Lisa ging genau in dem Augenblick dazwischen, um uns zu trennen, als die Flamme emporgewachsen war. Das aufgeloderte Feuer bewirkte zusammen mit der verdichteten Dunkelheit, dass nur zwei sahen, wie Lisa in das Messer rannte, das ich in der Hand hielt.
Der eine gehörte zu den Angreifern – der ehemalige Kollege meines Vaters stopfte ihm das Maul. Der andere war mein – von dem Moment an ehemaliger – Freund Baibikow. Bai.
Möglich, dass er dem Untersuchungsführer die Wahrheit gesagt hat.
Selbst mir scheint es manchmal, Lisa sei nicht in das Messer gerannt, sondern ich habe zugestoßen. Aber nicht absichtlich! Ich hatte gerade das Messer an mich gebracht – es war klein, ein Taschenmesser, aber die Klinge ließ sich arretieren –, in meiner Kehle kochte Gebrüll hoch, ich schickte mich an anzugreifen, ich war der Verteidiger, ich hatte die Überfallenen vor den Missetätern zu beschützen. Wie viele es waren, dort in der Dunkelheit, wusste ich noch nicht. Vielleicht stand dort eine ganze Horde, mit Spießen bewaffnet. Ich war im Begriff, loszustürmen und mich auf sie zu werfen, als plötzlich jemand von irgendwo seitlich auf mich zustürzte, schrie und meine Hand zu packen versuchte. Was sollte ich denn tun?
Wie dem auch sei, sie ist durch meine Hand ums Leben gekommen. Sie stürzte weniger herbei, um mir beizustehen, als mir in den Arm zu fallen. Wie von Sinnen vor lauter Kraftgefühl, war ich drauf und dran, alle abzustechen.
Die ganze Nacht – genauer gesagt, was von ihr übrig geblieben war –, die ich, allmählich wieder zu mir gekommen, dort in der Zelle verbrachte, dachte ich an sie, an Lisa.
Die dunkelblauen Wände erweckten, besonders wenn auf dem Gang helles Licht aufleuchtete, den Eindruck der Dunkelheit am Fluss. Doch über den Gang klangen schwere Stiefelschritte, wie Singsang, angestimmt von der mir vertraut gewordenen Stimme: »Stehen bleiben, eh! Stehen bleiben! Hände, eh, Hände!« Es schien, der, dem diese Stimme gehörte, kenne gar keine anderen Worte.
Dann verlosch das Licht, und alles versank in Dunkelheit.
Am frühen Morgen wurde ich aus der Zelle herausgeholt und in ein Zimmer gebracht, in dem sich ein mittelgroßer, kahlköpfiger Mann mit ebenmäßigen Gesichtszügen von dem Tisch, an dem er saß, erhob und mir entgegentrat. Er wies auf einen Stuhl. Ich setzte mich. Er bot mir, nachdem er mich von oben herab gemustert hatte, eine Zigarette an. Um meinen von dem übereifrigen OMON-Kerl {4} lädierten rechten Arm zu schonen, fingerte ich mit der Linken ungeschickt eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie zwischen meine aufgeschlagenen Lippen.
Ich entzündete die Zigarette an dem mir hingehaltenen Feuerzeug, er setzte sich hin und begann ohne Eile in einer dicken Aktenmappe zu blättern, wobei er fortwährend geräuschvoll Luft durch die Nase einsog. Als er auf ein Papier stieß, das sein Interesse fand, vertiefte er sich lange in die Lektüre.
Ich sah mich
Weitere Kostenlose Bücher