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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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vorbeigelassen und die andere Straßenseite erreicht hatte, war er verschwunden.
    Mir kamen Leute entgegen, ich musste auf die Fahrbahn ausweichen und wäre beinahe angefahren worden. Der Fahrer bremste, hupte, sah zum Fenster heraus.
    »Blödmann! Bist wohl lebensmüde?!«, brüllte er, das Lenkrad herumreißend.
    Ich kehrte auf den Bürgersteig zurück und legte schnellen Schritts ein paar Dutzend Meter zurück. Ich kam an einem schmalen Durchgang zwischen den Häusern vorbei, als mich eine Hand am Ärmel packte und von der Straße riss.
    Schwer atmend drückte mich jemand an die Wand. Wie unter Wasser gezogen, zappelte ich in einer kräftigen Umarmung, konnte mich jedoch frei machen und sah meinen Vater vor mir.
    »Papa!«, sagte ich. »Du bist das!«
    »Wo willst du hin?« Mein Vater blickte mir aufmerksam ins Gesicht und legte die Hände vor der Brust zusammen. »Sticht dich der Hafer?! Ich habe dich doch gewarnt.«
    »Sie sind alle umgebracht worden!«, fiel mir ein. »Alle!«
    Auf die Lippen meines Vaters trat ein Lächeln.
    »Richtig so! Ein paar Dummköpfe weniger! Nur Dummköpfe lassen sich umbringen!«
    »Dummköpfe?«
    »Ja, Dummköpfe«, bekräftigte er, trat zum Ende des Durchgangs und warf einen raschen Blick hinaus auf die Straße.
    »Wer ist umgebracht worden, sagst du?«, fragte er, als er zurückkam.
    »Die, die ich retuschiert habe.« Ich sah ihn hoffnungsvoll an: Ich glaubte, jetzt würde er mich nicht betrügen.
    »Eine Verkettung von Umständen?«
    »Von wegen! Das Gequatsche über Verkettung von Umständen ist übrigens auch eine Erfindung von Dummköpfen. Sie wollen der Wahrheit nicht ins Auge sehen! Umgebracht? Geschieht den Dummköpfen ganz recht!« Er sah jung und munter aus, seine für gewöhnlich blauen Lippen zeigten eine kräftige Farbe. »Wollten sie von dir Fotos korrigiert haben? Jetzt werden sie es nicht mehr tun! Und du? Hat dir vielleicht vom Kater die Hand gezittert, oder hast du dir eine kleine Zerstreuung genehmigt? Bist du gebeten worden? Für wie viel?«
    »Wovon redest du?«, fragte ich. Ich wusste schon, dass ich keine Nachsicht zu erwarten hatte.
    »Bist du immer noch nicht dahintergestiegen? Habe ich dich gewarnt? Habe ich. Jetzt trägst du selber die Schuld.« Er griff nach meinen Schultern: Seine Hände waren heiß, so heiß, dass ich ihre Hitze durch mein Hemd spürte. »Das, mein Lieber, nennt man die »Sünden der Väter‹. Mein Erbe ist restlos auf dich übergegangen. Wozu ich dich beglückwünsche!« Er lachte fröhlich auf.
    »Wovon redest du bloß?! Was für ein Erbe?!«, wollte ich wissen.
    »Spiel nicht die Unschuld vom Lande! Du verstehst alles ganz genau. Die Leute, die du von Negativen entfernst, sterben bald darauf. Oder werden umgebracht. Sie sind todgeweiht. Du darfst vor allem selbst nicht die Nerven verlieren. Obwohl du Grund genug dazu hast. Ich war Befehlsempfänger. Verstehst du? Ich habe Befehle ausgeführt. Nachdem ich einmal meine Entscheidung getroffen hatte, habe ich mich mit nichts mehr herumgequält. Ich wusste, was ich kann, und habe meine Fähigkeiten genutzt. Ohne Selbstzweifel, ohne Hektik, ohne mich verrückt zu machen. So war die Zeit. Bezahlt wurde ich nicht. Andere erfüllten ihre Pflicht am Hochofen, ich im Fotolabor. Andere haben Stahl geschmolzen, ich habe die Geschichte zurechtgebogen. Von meiner Arbeit hing zu viel ab. Jemand wurde umgebracht – na und! Eine Lappalie! Ich habe meinen Schaber gehandhabt, und das Gesicht der Welt hat sich verändert!«
    Ich hatte den Eindruck, dass mein Vater phantasierte. Seine Augen huschten hin und her, er leckte sich hastig die Lippen, tänzelte gleichsam – bald setzte er das rechte Bein vor und ging leicht in die Hocke, bald wechselte er das Bein, machte einen Schritt zurück, stemmte sich mit dem Rücken gegen die Wand und setzte wieder das rechte Bein vor.
    »So musste es sein, und basta!«, fuhr mein Vater fort. »Verstehst du? Entweder du sie oder sie dich! Andere Varianten gab’s nicht. Und da glaubst du Dämel mir nicht! Du glaubst mir doch nicht, wie?« Er packte mich bei den Schultern und atmete schwer. »Die Zeit war so! Und ist so geblieben! Oder willst du sagen, dass sich etwas geändert hat?«
    »Du musst nach Hause! Die Spritzen! Spritzt dich Tanja?«, sagte ich und schielte nach meiner Uhr.
    »Du wirst mir die Spritze geben.« Er rang nach Luft. »Meinst du, ich habe die Wohnung einfach so geschenkt bekommen? Ich habe sie …« Er sprach nicht weiter. »Der, von dem ich die

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