Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
Vom Netzwerk:
annehmende Sinnestäuschung loszuwerden.
    Ich fuhr geradewegs zu meinem Vater, und zwar nicht nur der Überzeugung wegen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Tod dieser Leute und meiner Arbeit gab. Ich hoffte, in der Wohnung meines Vaters Tanja zu treffen.
    Vergebens, wie sich zeigte: Sie und ihre Auftraggeber hatten bereits das Urteil über meinen Vater gefällt, er bedeutete für sie inzwischen eine tödliche Gefahr, sie waren bereits zu der Erkenntnis gelangt, dass ich die Gabe meines Vaters in vollem Umfang geerbt hatte, im Unterschied zu ihm aber keine MGB-Erfahrungen und folglich auch nicht seine Wendigkeit und Meisterschaft besaß.
    Mein Vater hatte nein gesagt, ich noch nicht. Und sie glaubten, ich würde nicht nein sagen.
    Ich fuhr wie gewöhnlich auf den Hof. Ohne mir Gedanken über eine mögliche Beschattung zu machen, ohne mein Auto ordentlich abzuschließen, rannte ich ins Haus und sauste – den Fahrstuhl hatte ich ganz vergessen – Stufen überspringend die Treppen hinauf.
    An der Wohnungstür fiel mir die Anlage meines Vaters ein, deshalb stellte ich mich, wobei ich gleichzeitig wieder zu Atem zu kommen versuchte, genau auf die roten Fliesen, langte nach der Klingel, vergewisserte mich, dass ich auch richtig stand, und drückte endlich auf den Knopf.
    Die Ansage schaltete sich nicht ein! Ich drückte noch einmal: wieder nichts.
    Ich klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Tür, dann mit der Faust. Hinter der Tür herrschte Stille. Das ganze Haus schien darauf zu warten, was ich unternehmen würde, während mir einfach nicht aufging, dass etwas geschehen sein musste, was meinen Vater bewogen hatte, sein Schneckenhaus zu verlassen.
    Am anderen Ende des Treppenabsatzes öffnete sich spaltbreit eine Wohnungstür, unter buschigen grauen Brauen warf ein kleiner gelbgesichtiger Mann einen raschen Blick zu mir herüber.
    »Entschuldigen Sie, äh, entschuldigen Sie!« Ich drehte mich zu ihm um, doch die Tür krachte zu, von der Innenseite knirschten Schlösser, eine Kette klirrte.
    In Ruhe ließ ich den Alten jedoch nicht: Ich überquerte den Treppenabsatz und klingelte bei ihm. Wahrscheinlich stand er hinter der Tür und beäugte mich durch den Spion.
    »Worum geht es?«, hörte ich seine brüchige Bassstimme.
    »Haben Sie vielleicht gesehen, ob Ihr Nachbar irgendwohin gegangen ist?«
    »Sprechen Sie lauter, ich höre schlecht.«
    Ich ging ganz dicht an die Tür heran und wiederholte meine Frage.
    »Nein«, antwortete er. »Nein! Aber bei diesem verdammten Miller sind Leute gewesen!«
    »Wer?«, fragte ich hoffnungsvoll.
    Die Tür ging so unvermutet auf, dass sie mir um ein Haar gegen das Gesicht geknallt wäre, ich sprang zurück und stellte fest, dass der Alte zwar eher klein, dafür aber kräftig gebaut und sehnig war. Hellblaues verwaschenes T-Shirt, etwas kurze Haushosen. Barfuß. Große Füße, die Zehennägel glänzend, gebogen. Angst hatte er nicht vor mir.
    »Solche wie Sie. Irgendwelche Herren!«, sagte er spöttisch, an seinen Lippen kauend. »Sie waren zu dritt. Klingelten lange, ließen sich vor seiner Tür fotografieren.« Plötzlich straffte er sich und fragte:
    »Und wer sind Sie eigentlich? Von der Miliz?«
    »Nein.«
    »Vom KGB?«
    »Nein. Den KGB gibt es längst nicht mehr.«
    »Ach ja? Sie sind naiv, mein Lieber. Wer also sind Sie?«
    »Ich bin der Sohn, der Sohn Ihres Nachbarn.«
    Meine Antwort hatte eine völlig unerwartete Reaktion zur Folge: Der Alte zog die Tür zu, legte die Kette vor, blitzte mich über sie hinweg an und ranzte wie ein Kommandeur vor der Regimentsfront:
    »Verschwinden Sie!«
    Die Tür schlug zu.
     
    Durch den Torbogen trat ich auf die Straße hinaus, blieb aber unentschlossen stehen: Ich musste nach meinem Vater suchen, ich musste etwas unternehmen, doch was, das war mir völlig schleierhaft. Am Kinoeingang vorbei ging ich bis zur Straßenecke.
    Wo konnte er bloß hingegangen sein? Zudem jetzt am Tage, wo er für gewöhnlich in seinem großen Zimmer mit der Zeitung saß oder seine Papiere durchsah.
    Ich überquerte die parallel zum Fluss verlaufende Straße, stieg zur Brücke hoch, trat an die Brüstung und sah auf die Uferstraße hinab: Von der Brücke weg, den Rücken mir zu gewandt, ging ein Mann, der meinem Vater sehr ähnlich sah.
    »Papa!«, rief ich.
    Der Mann drehte sich nicht um. Er zog den Kopf ein und beschleunigte seinen Schritt.
    »Papa!« Ich stürmte los, rannte, Passanten beiseite stoßend, hinter ihm her, doch ehe ich ein einbiegendes Auto

Weitere Kostenlose Bücher