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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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keinen Anspruch erhob, mehr zu sein als ein Werkzeug in den Händen anderer.
    Schade, dass die technischen Möglichkeiten es nicht erlaubten – und auch jetzt nicht erlauben –, ein Gruppenbild aller der Vernichtung Anheimfallenden anzufertigen. Mein Vater hätte seine Arbeit mit einer einzigen breiten Schaberbewegung erledigt, ganz bestimmt aber umgehend eine Kugel ins Genick bekommen.
    Mein Vater ging schrittweise vor: zunächst den, dann einen anderen. Er sammelte Fotos derer, die gefährlich werden konnten. Sein höchster Traum war es, ein Foto Boris Vikentjewitschs in die Hand zu bekommen. Bald besaß er es auch, ließ sich jedoch Zeit. Erst nachdem er aus seinem Chef alles Notwendige herausgeholt hatte, schlug dessen Stunde.
    Warum also hielt mein Vater an seinem Dienst für die Organe fest? Und nutzte seine Gabe weiter in vollem Maße? Völlig unbekümmert? Sehr einfach: Er glaubte, es gebe niemanden mehr, der von seiner Gabe wusste.
    Er irrte sich. Boris Vikentjewitsch, der geargwöhnt hatte, dass sich mein Vater früher oder später diesem Dienst entziehen würde, aber trotzdem den Zeitpunkt immer wieder hinauszögerte, als er besser daran getan hätte, ihm einen Genickschuss zu verpassen, hatte einen Bericht hinterlassen: Miller, Genrich Rudolfowitsch, Hauptmann der Staatssicherheit, ist in der Lage, das und das zu tun, womit er eine Gefahr darstellt. Diesen Bericht hielt niemand für glaubhaft – Boris Vikentjewitsch lebte nicht mehr, vor seinem Tod, bei den Verhören, hatte es nach Ansicht der Vernehmer bei ihm ausgehakt, also musste er schon vor seiner Verhaftung nicht recht bei Verstand gewesen sein, nur war das weder seinen Kollegen noch seinen Angehörigen aufgefallen. Der Bericht blieb lange Jahre in einer Mappe mit dem Stempel »Ewig aufzubewahren« liegen, bis man auf ihn aufmerksam wurde.
    Das waren weiß Gott hervorragende Leute. Was gibt es nicht für Berichte in solchen Mappen! Konnte sich womöglich auch alles in ihnen Dargelegte als wahr herausstellen?
     
    Irgendwie musste ich an den weggeschabten Boris Vikentjewitsch denken, den Kulagin partout als Baibikows Vater hinzustellen trachtete, als der Glatzkopf in der Wohnung meines Vaters die auf dem Tisch liegenden Fotos beiseiteschob und Wodka eingoss. Er hob sein Glas, leerte es, langte ohne Hast nach der Zigarettenschachtel. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel, als hätte er zweihundert Gramm Mineralwasser in sich hineingeschüttet.
    »Was sehen Sie mich so an?«, fragte er und steckte sich eine Zigarette an. »Trinken Sie!«
    Ich trank. Dieser Priwet war ganz passabel. Ich stand auf, ging in die Küche und kam mit der Wurst zurück.
    »Möchten Sie einen Happen?«
    »Gern.« Er füllte wieder beide Gläser.
    Bei mir setzte schon nach dem ersten Glas die Wirkung ein, deshalb ließ ich mir beim zweiten Zeit.
    »Wie alt sind Sie, Genrich Genrichowitsch?«, fragte er.
    »Neununddreißig.«
    »Da sind wir fast gleichaltrig. Vielleicht lassen wir die Förmlichkeiten? Ich heiße Sascha. Also, Genrich, ich habe ein feines Gespür. Es hat mich noch nie getrogen: Du bist in eine sehr ernste Sache hineingeraten. Mag sein, ungewollt, mag sein, von jemandem verleitet, aber du steckst bis über die Ohren drin. Habe ich recht?«
    »Möglich.« Ich hob das Glas entschlossen an den Mund und kippte es.
    »Na schön, was sollen wir um den heißen Brei herumreden!« Er zündete sich eine neue Zigarette an der alten an. »Dein Studio haben Profis auf den Kopf gestellt. Keine Einbrecherprofis, sondern …« – er stockte und beugte sich zu mir über den Tisch – »Profis von der Staatssicherheit. Möglicherweise ehemalige, die Handschrift jedenfalls ist deutlich lesbar. Von denen ist auch dein Vater beseitigt worden und dann der Vollstrecker. Die haben hier alles durchstöbert. Verstanden?« Er setzte sich wieder hin. »Ob du verstanden hast, frage ich.«
    »Verstanden.« Ich nickte. »Verstanden. Bloß wozu?«
    »Was wozu?«
    »Wozu machen sie das alles?«
    »Es gibt da ein Fädchen. Ein sehr, sehr dünnes.«
    Er verstummte. Mir gegenüber saß ein müder Mann mit einem nicht gerade frischen Hemd. Er scharrte mit den Füßen, befreite sie von den nach dem langen Tag zu eng gewordenen Schuhen. Nikotingelbe Finger, kleine vom Rauchen gedunkelte Zähne. Er spielte sich auf, aber sein Gehabe, sein herablassendes Gerede konnten nicht verdecken, dass ich einen in die Enge getriebenen Menschen vor mir hatte, der nicht wusste, woher ein neuer, möglicherweise der

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