Der Retuscheur
Sie scheint sich allmählich zu beleben, um mich vom letzten Foto schon richtig lebendig anzublicken.
Vorwurfsvoll. Erschrocken. Als sage sie: Und was hast du nun erreicht?
Sie ist an der Vortreppe angelangt, kommt herauf, drückt auf den Klingelknopf. Ich gehe öffnen, sehe, die Hand an der Klinke, durch den Spion. In ihm erscheint ihr Mund noch größer, werden ihre Hagerkeit und die hohen Jochbeine noch mehr betont. Sie tritt von einem Fuß auf den anderen, korrigiert das Riemchen ihrer Handtasche. Was hat sie darin? Eine Pistole? Oder beabsichtigt sie, mir Gift in den Whiskey zu schütten? Oder – auch das ist nicht auszuschließen – wird sie im kritischen Moment jemanden zu Hilfe rufen und selbst in die Küche gehen, um sich die Ohren zuzuhalten? Hat sie ein Funkgerät in ihrer Handtasche?
Ich mache die Tür auf.
»Guten Tag!«
»Guten Tag!« Ich trete zur Seite, und sie kommt herein.
Nachdem ich die Tür geschlossen habe, folge ich ihr.
Sie hat eine kantige Figur, die Schulterblätter treten hervor, ihr rötlicher Schwanz ist zur Seite gerutscht. Sie zuckt zusammen, als die Tür zuklappt, doch statt sich umzudrehen, geht sie zum Arbeitstisch und wirft ihre Handtasche lässig in den Sessel.
»Du hast dich verspätet«, sage ich, während ich um den Tisch herumgehe, sodass ich ihr gegenüberstehe.
Allem Anschein nach sitzt ihr tatsächlich ein großer Schrecken in den Gliedern. Nur ist das jetzt echter Schrecken, nicht wie auf ihrem Foto.
»Ja.« Sie nickt. »Ich habe mich herfahren lassen, aber eine Streife hat den Fahrer angehalten. Und seine Papiere kontrolliert.«
Sie sagt das in einem Ton, dass mir endlich aufgeht: Auch sie hat alles begriffen, sie weiß, dass ich auf alles eingestellt bin, dass ich erkannt habe, wer sie ist.
»Von wem?«, frage ich trotzdem.
»Von wem ich mich habe herfahren lassen? Das weißt du doch! Wozu fragst du?«
Hat sie etwa die Absicht, auf meine Seite überzugehen?, überlege ich und biete ihr Kaffee an.
»Ja, bitte«, sagt sie. »Aber nicht so stark.«
Und dann öffne ich die Augen. Der Hof ist leer, niemand nimmt den Weg durch die Grünanlage, niemand steigt die Vortreppe herauf, niemand klingelt an meiner Tür. Ich stehe auch längst nicht mehr am Fenster, sondern sitze an meinem Arbeitstisch. Vor mir liegen ihre Fotos.
Ich trinke einen ordentlichen Schluck Whiskey und überlege, dass in der Liebe, besser gesagt, in dem Empfinden dessen, was gemeinhin als Liebe bezeichnet wird, auch beschlossen liegt, womit sie endet. Früher oder später geht dieses Gefühl zwangsläufig vorüber. Mitunter geht es auch nicht vorüber, sondern verfliegt einfach, löst sich unversehens in nichts auf. Aus und vorbei!
Verwunderlich aber ist, dass einem die übrigen Gefühle stets erhalten bleiben. Nehmen wir Boshaftigkeit oder Neid. In ihnen sitzt eine Art besonderer Mechanismus, der sie speist und praktisch ewig am Leben hält. Hat man angefangen, neidisch zu sein, gibt es kein Halten mehr. Solche Gefühle gehen auf wie Hefeteig. Schrauben sich immer höher. Und verbinden sich miteinander. Die Liebe hingegen ist ein isoliertes Gefühl und vor allem verletzlich, vor allem wenig langlebig, wenn man in einem anderen Menschen sich selbst zu sehen beginnt, womöglich noch, wie man früher war, das heißt besser als jetzt.
In Tatjana sah ich mich so, wie ich seinerzeit mit Lisa gewesen war. Und haschte nach jedem Moment, jedem Augenblick, den ich mit ihr verbracht hatte, als banne ich ihn auf den Film, als zerlege ich den Ablauf in einzelne isolierte Bilder, Fragmente. Das hatte Konsequenzen: Selbst als ich begriff, wer sie war und was sie von mir wollte, als ich begriff, dass sie nicht allein agierte, dass sie von jemandem gelenkt wurde, hörte ich trotzdem nicht auf, sie zu lieben. Sehr erstaunlich!
Ich kann mir vorstellen, was mein Vater empfand, als er Tatjana zum ersten Mal sah. Keine Gewissensbisse – ein solches Gefühl war ihm, denke ich, absolut fremd –, aber doch etwas, was ihn daran hinderte, sie sofort loszuwerden. Er akzeptierte ihre Nähe als eine gewisse Erinnerung an frühere Freuden. Er war, sofern man das so ausdrücken kann, schuldiger als ich.
Ich ahnte einstweilen nichts von meiner Gabe, dachte nicht daran, sie jemals zu nutzen, weder für mich selbst noch für andere. Er dagegen kannte die seinige, kannte und nutzte sie. Er schaffte es, alle zu überlisten. Wartete seine Zeit ab, vermochte es glaubhaft zu machen, dass er gefügig war, dass er
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