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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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gefährlichste Schlag kommen würde.
    »Was für eins?«, fragte ich.
    »Ah, es dämmert!« Er grinste. »Es dämmert!« Und er beugte sich wieder zu mir herüber. »Auf ihn« – er zeigte auf eines der Fotos Baibikows – »wird Jagd gemacht. Mehrere Anschläge in den letzten Monaten. Und zwar vorbereitete. Aber jedes Mal ging etwas schief. Die im Auto versteckte Bombe explodierte ein bisschen zu früh und verletzte ihn nur leicht, ein Scheißer von Schütze erschoss statt seiner einen anderen. Kurz gesagt – ein Sonntagskind.«
    Er verteilte die Wodkaneige.
    »Ganz anders als mein bester Freund! Prost!«
    Wir tranken.
    »Mein Freund ist von uns weggegangen, hat einen Wachdienst aufgemacht und sich dazu hergegeben, diesen Stinker zu beschützen, bei einem der Anschläge ist er dann ums Leben gekommen. Verstehst du? Hat den Klienten mit seinem Körper gedeckt. Mein bester Freund!«
    »Verstehe«, sagte ich.
    »Einen Dreck verstehst du! Einen Dreck! Umgebracht worden ist er wegen eines Stinkers, der auf Kundgebungen große Reden schwang! Wegen eines abgewrackten Komsomolfunktionärs!«
    »Schwingt er denn jetzt keine Reden mehr?«
    »Nein. Weißt du das nicht – er ist jetzt Abgeordneter. Hat den Kopf eingezogen, unser Stinkerchen. Wollte sich sogar ins Ausland absetzen. Seine Verletzung hat es verhindert. Sobald er auskuriert ist, wird er es noch einmal versuchen. Weißt du, warum? Weißt du nicht? Mein Freund hat es mir erzählt. Er hat sich einige Papierchen über ehemalige Mitstreiter beschafft. Damit lässt sich ein solcher Skandal inszenieren, dass viele froh sein werden, eine Kugel in den Arsch zu kriegen.
    Hauptsache, sie stehen nicht weiter unter Beschuss. Hauptsache, sie kommen aus der Patsche heraus. Was in diesen Papieren steht, weiß ich nicht, aber ihre Bedeutung wird hoch veranschlagt.«
    »Wegen dieser Papiere will man ihn umbringen?«, unterbrach ich ihn.
    »Höchstwahrscheinlich.« Sascha nickte. »Wenn nicht, kommen wie immer nur noch wenige Gründe in Frage.«
    »Zum Beispiel?«
    »Geld. Frauen. Ist jemandem in die Quere gekommen. Steckt seine Nase in Sachen, die ihn nichts angehen. Weiß zu viel oder etwas, was er nicht wissen sollte. Welcher gefällt dir am besten?«
    »Der zweite«, sagte ich. »Ich denke, der zweite.«
    »Und ich sage – der letzte. Mein Freund hat eine Andeutung gemacht. Er sagte, als der Redenschwinger die Papiere in die Finger bekommen habe, sei er vor Freude bis an die Decke gesprungen. Obwohl …«
    Er schraubte den Deckel der Whiskeyflasche ab und warf mir einen listigen Blick zu.
    »Wozu brauchst du so viele Fotos von ihm?«
    »Für die Arbeit. Ich begleite ihn auf einer Dienstreise. Er fährt irgendwohin zu einem Brennpunkt. Als Abgeordneter. Mit ihm fahren immer Journalisten und Fotografen. Diesmal bin ich dabei.«
    »Du nimmst doch nackte Weiber auf! Wozu brauchst du einen Brennpunkt? Hast du die Weiber über?«
    »Ich habe beschlossen, mein Profil zu wechseln. Mir ein anderes Sujet zu suchen. Mein Agent hat es mir empfohlen.«
    »Wie heißt er?«
    »Wer?«
    »Der Agent!«
    Ich nannte Kulagin. Sascha seufzte, goss mir und sich Whiskey ein, wir stießen an.
    »Dass du mal nicht vor deiner Dienstreise ins Gras beißt, Genrich!«, sagte er.
     
    Ich erwachte am Morgen in meinem ehemaligen Zimmer. Der Sonnenstrahl kroch wie vor vielen, vielen Jahren so langsam über mein Gesicht, wie ich es nirgends, in keinem einzigen Haus mehr erlebt hatte. Er hielt auf meinen Nasenflügeln inne, dass ich niesen musste, kroch weiter.
    Ja, das war ein ganz schönes Gekübel geworden: Ich hatte angezogen geschlafen, die Socken standen starr und stolz von meinen Füßen ab, die gleichsam eine selbstständige Existenz begonnen hatten.
    »He!«, rief ich nach meinem nächtlichen Zechkumpan. »He!«
    Keine Antwort. Ich wälzte mich mühsam auf den Bauch, rutschte zum Bettrand, stellte mich auf meine einzuknicken drohenden Beine, ging mit weichen Knien zur Tür zum großen Zimmer. Niemand da! Nichts als die zerdrückte Decke auf dem Sofa und das Kissen, das die Umrisse des verwegenen Gesetzeshüterkopfes bewahrte. Unser nächtliches Gespräch fiel mir nicht gleich ein, und als es dann doch in meinem Gedächtnis hochkam, verzog ich unwillkürlich das Gesicht und presste zwischen den ungefügigen Lippen hervor:
    »Oh, dieser raffinierte Bulle!«
    Wozu hatte er mir von seinem ums Leben gekommenen Freund, von irgendwelchen Fädchen, von ehemaligen Leuten von der Staatssicherheit erzählt? Von

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