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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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hochroter glänzender Eichel – legte. Ich musste mich danach übergeben, während er mit einem Handtuch danebenstand – fürsorglich, zärtlich, zufrieden –, redete und redete und mir mit Fragen zusetzte: Ich würde es doch niemandem sagen, ich wollte doch nicht, dass wir uns nicht mehr sähen, es hätte mir doch Spaß gemacht und die Übelkeit käme nur davon, dass das für mich ungewohnt sei. Und ich, zum Teufel, antwortete: Nein, ich würde es niemandem sagen, ich wollte ihn sehen, ja, und es hätte mir Spaß gemacht, ja, ja, ja.
     
    Ich nahm den Zettel mit der Adresse, legte ihn zwischen Bais Fotos und mischte sie wie ein Kartenspiel. Der Zettel fiel heraus und segelte auf den Tisch.
    Übelkeit stieg mir in die Kehle. Ich sah unter dem Tisch nach, holte die Whiskeyflasche hervor. Auf dem Boden plätscherte es, ein bisschen nur. Ich warf den Kopf zurück. Ein paar Tropfen fielen auf meine Zunge, und – ich schaffte es gerade noch zur Toilette – da brach es aus mir heraus.
    Ich wischte mir die Lippen mit dem Handrücken, setzte mich auf den gefliesten Boden, lehnte mich an die Wand. Was war eigentlich ungewöhnlich an ihrer Bitte? Nur eines – dass mein Vater ihr sein Geheimnis anvertraut hatte. Ich versuchte mich an seine Worte zu erinnern, die er mir dort, auf der Uferstraße gesagte hatte, wenige Minuten vor seinem Tod. Etwas Ähnliches hatte bestimmt auch Tatjana von ihm zu hören bekommen. Sie hatte es geglaubt. Und sich damit nicht geirrt. Man konnte sie verstehen – mein Vater war ihre letzte Hoffnung gewesen, und jetzt war ich es.

Zwölftes Kapitel
    Wie dem auch sei, ich fuhr zu Bai. Zunächst wollte ich ihn in die Enge treiben, ihm einen Schrecken einjagen, ihn zwingen, um Gnade zu flehen, und ob ich sie ihm gewähren würde, war dabei ohne Bedeutung. Ich wollte eines – dass er das Fracksausen kriegte, sich in die Hosen machte, vor mir auf die Knie fiel und sagte: »Ich habe dich damals verraten! Ich habe nicht gesehen, dass du mit dem Messer zugestoßen und Lisa getroffen hast!«
    Und außerdem brannte ich vor Neugier zu sehen, wie er jetzt lebte, mein lieber Freund aus Kindertagen.
    Mich interessierte überhaupt, wie andere Leute lebten und was ihr Leben ausmachte. Der Sucher erfasste das nicht. Durch den Rahmen, den er um jeden Bildausschnitt setzte, entfiel möglicherweise, was für sie am wichtigsten war, doch egal ob ich sie durch den Sucher betrachtete oder ohne künstliche Vorrichtungen, ich war ein und derselbe Mensch. Auch ohne Kamera in der Hand fotografierte ich sie.
    Das Foto ist keine Begegnung mit einem anderen Menschen in Augenblicken der Wahrheit, wie das müßige Theoretiker nennen. Oder höchstens einer einseitigen Wahrheit, der Wahrheit des Aufnehmenden: Er hat immer recht. Alle Übrigen sind nicht mehr als kleine Porzellangötzen. Mit solchen Gedanken hatte ich viele Jahre gelebt, doch dann stahl sich der Zweifel in mein wohlgeordnetes Denkschema – allmählich muteten mich die anderen nicht als bloße Modelle an, sie schienen mir manchmal in einer anderen Welt zu existieren, einer Welt, in der es kein Festhalten in Bildern, keine Retuschen, keine Finessen in der Arbeit mit Reagenzien, keine Kunst der Abzugsanfertigung gab. Da blickte ich mich um und stellte fest: Ringsum war niemand. Mein Agent und die Frauen, mit denen ich das Bett teilte, zählten ja nicht.
    Der Zweifel kam zu spät.
    Ich war unterwegs zu Maxim Borissowitsch Baibikow und malte mir seine Luxuswohnung aus.
    Diese ehemaligen Komsomolfunktionäre, die sich beizeiten darauf verlegt hatten, die technische Kreativität der Jugend zu managen, die problemlos in die Welt des Business hinübergewechselt war, diese Leute mit den zum Verwechseln ähnlichen Gesichtern, bei denen die schlichten finnischen Anzüge durch rote Sakkos und diese durch strenge maltesische Dreiteiler abgelöst wurden, kannte ich nur zu gut. Ich wusste, wie sie an einem absolut leeren Tisch zu sitzen und die Stirn tiefsinnig zu runzeln verstanden. Ein Verleger, der ebenso auf Minderjährige scharf war wie Bai, in früheren Jahren der Zweithöchste unter den Komsomolfunktionären, lebte so, dass ich ihm mit meinem Studio und meinem Selbstgefühl nicht das Wasser reichen konnte. Auch Bais Adresse war entsprechend – Kutusow-Prospekt, linker Hand vom Triumphbogen –, und Bai war nicht irgendein Verleger, sondern Politiker, Abgeordneter, doch nie hätte ich gedacht, Bai so und in einer solchen Wohnung anzutreffen.
     
    Ja, die Wohnung lag am

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