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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Kutusow-Prospekt, links des Triumphbogens – vom Zentrum aus gesehen –, doch war sie keineswegs eine für Komsomolfunktionäre typische Wohnung. Klein und schlicht, mit Möbeln wie in der Verwaltung einer mickrigen Fabrik. Es fehlten bloß die Inventarnummern.
    Die Tür allerdings war aus Stahl, noch stabiler als die in meinem Studio. Als sie sich öffnete, schlug mir aus der Tiefe der Wohnung der abgestandene Geruch von Tabakqualm, schmutziger Wäsche und stehen gebliebenen Essensresten entgegen. Im Korridor verlangte der hochgewachsene, sehnige Mann, der mich hereingelassen hatte, dass ich meine Papiere vorwies und mein Köfferchen aufmachte, und fuhr mit einem Metallsuchgerät um mich herum.
    Nach der Kontrolle wies er auf eine der Türen und sagte heiser:
    »Warten Sie dort!«
    In dem Zimmer war es schummrig und staubig. In den Ecken der hohen Decke hingen Spinnweben. Entlang der Wände altmodische Bücherschränke, deren Glastüren mit vergilbtem Stoff verhängt waren, und ein alter Lederdiwan mit Schlummerrollen, der nach Vorsicht gebietenden Sprungfedern aussah. Im Korridor waren die gemessenen Schritte von Bais Leibwächter zu hören, hinter der Wand unverständliches Gemurmel: Im Nebenzimmer wurde telefoniert.
    Ich setzte mich auf einen am Fenster stehenden Stuhl und wollte mir gerade eine Zigarette anstecken, als die Tür aufging: Auf der Schwelle stand Baibikow.
    »Du!«, sagte er mit auf mich gerichtetem Finger. »Sei gegrüßt! Komm!« Er machte eine schwungvolle Kehrtwendung: Dass er vor kurzem eine schwere Verletzung erlitten hatte, merkte man ihm nicht im Geringsten an.
    Ich stand auf und folgte ihm durch den Korridor, an dem Leibwächter vorbei, in ein anderes Zimmer, in dem tatsächlich ein gedeckter Tisch stand. Die Stühle wirkten so, als hätten sich die Teilnehmer des Gelages eben erst erhoben, zwei weitere Tische, zu beiden Seiten des vom Staub gedunkelten Fensters, waren mit Papieren überhäuft, in der Ecke schimmerte neblig der Bildschirm eines Computers.
    »Da«, Bai wies, nachdem er die Tür geschlossen hatte, mit dem Kopf auf die Tische mit den Papieren, »ich bereite mich vor.«
    »Worauf?«, fragte ich und bemerkte erst jetzt, dass in dem Zimmer noch ein Mensch war, allem Anschein nach ein zweiter Wachmann. Eine Kopie des ersten, nur noch sehniger und größer, stand er mit vor der Brust verschränkten Armen in der Ecke.
    »Wie?!«, rief Bai, Speichel sprühend. »Bist du nicht im Bilde? Es gibt Nachwahlen. Wir müssen unsere Kandidaten durchbringen, dann kann sich unsere Fraktion offiziell registrieren lassen. Du begleitest mich? Ja? So habe ich es verstanden. Deine Fotos sind mir schon untergekommen. Nicht übel. Aber«, er trat dicht an mich heran, »jetzt ist nicht die Zeit, Weiber zu fotografieren! Wahrhaftig nicht!«
    Ich war versucht, in einen Spiegel zu blicken: Hatte wirklich nur ich mich verändert, mit ausgehenden ergrauten Haaren, und Bai überhaupt nicht? Er stand in der Mitte des Zimmers, ein gefälliges Äußeres, der ganze Mann irgendwie ausgewogen, ohne besondere Kennzeichen und markante Züge. So, wie er immer gewesen war. Alles an ihm war maßvoll, alles entsprach dem Kanon des sich als Schreihals gebärdenden Anführers aller Zeiten.
    »Hast du hier einen Empfang?«, fragte ich, auf den gedeckten Tisch deutend.
    »Was? O nein! Was für einen Empfang! Das war gestern. Wir kommen einfach nicht zum Abräumen. Übrigens« – er nahm eine halb geleerte Flasche vom Tisch –, »möchtest du ein Schlückchen?«
    »Gern«, sagte ich.
    »Du trinkst? Haha! Du trinkst!« Er sah sich nach einem sauberen Glas um und sagte dann zu dem Leibwächter: »Bring zwei saubere Gläser. Und für mich Mineralwasser.«
    Der Wachmann regte sich, und es knarrte, als er mit schweren Schritten hinausmarschierte. Durch die Tür, die er offen ließ, sah ich, dass der zweite im Korridor auf einem Stuhl saß und Zeitung las.
    »Ich trinke nicht!«, erklärte Bai. »Das heißt, wenig. Wenn ich anfange, ist es aus! Dann trinke ich nicht, dann saufe ich alles weg, was fließt. Alles! Also, was ist?« Er warf einen Blick auf das Etikett und verzog das Gesicht.
    »Was soll sein?«
    »Kommst du mit?«
    »Ja.« Ich nickte.
    Der Leibwächter kam mit einem Tablett zurück, auf dem leise zwei Flaschen Mineralwasser und zwei saubere Trinkgläser aneinanderklangen. Mit dem Tablett schob er die sich türmenden schmutzigen Teller beiseite. In einem schwamm in der angeschimmelten Soße eine lange Kippe mit

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