Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
folgenden Posten an den Botschaften in Schanghai und Rangun und bei der Kolonialverwaltung in Madagaskar trifft das Ehepaar Maurel just an jenem 18. Juni 1940 wieder in Paris ein, an dem Charles de Gaulle von London aus seinen berühmt gewordenen Appell »La defaite estelle definitive? Non... la France n'est pas seule...« über BBC verbreitet und die Franzosen zum Widerstand gegen die
deutschen Besatzer aufruft. Die Maureis haben, wie die meisten Franzosen, erst Wochen später davon erfahren. Doch da das Quai d'Orsay Gilles damit beauftragt, seine Londoner Beziehungen aufzufrischen und das Länderreferat Großbritannien zu leiten, setzt er bei seinem ersten Besuch in London alles daran, zu de Gaulle (und insgeheim zu der Baronesse von damals) Kontakt aufzunehmen. Schon ein paar Wochen später gehörten er und bald auch die in Paris als Kurier arbeitende Jeanne-Marie zum Kern des Widerstandes, der Resistance. Damit erklärt Gilles auch seine häufigen Reisen nach England.
Als das Leben im besetzten Paris immer ungemütlicher und gefährlicher wird, zieht sich Jeanne-Marie mit dem siebenjährigen Eric auf den elterlichen Besitz in der Tourraine zurück. Hier in dem kleinen, verwitterten Chäteau de Noizay, umgeben von ausladenden Wäldern und Ländereien, wäre es für ein Kind ohnehin besser, hatten Gilles und Jeanne-Marie beschlossen.
Sie würden genug zu essen haben, und Jeanne-Marie könnte sich wieder um ihr Hobby, die Schleppjagd, kümmern. Im Herbst und Winter finden dienstags und donnerstags Jagden mit Hundemeute statt, an denen sie schon als junges Mädchen mit roten Backen teilgenommen hat. Ihre Liebe zu Pferden, die sie als dümmste Tiere der Welt bezeichnet, überträgt sie auf ihren Sohn Eric, der sich vom Reiten auch dann nicht abhalten lässt, als seine Klassenkameraden ihn wegen dieses »Mädchensports« hänseln. Dümmstes Tier nennt Jeanne-Marie ihren großen braunen Belgier, weil es Pferden über Jahrhunderte von Evolution offensichtlich nicht gelungen ist, ihren Fluchtinstinkt abzulegen. Und deshalb erschrecken sich diese großen und starken Vierbeiner vor einer kleinen Pfütze so, als würde sie das Pferd verschlingen.
Die Jagdreiterin Jeanne-Marie erledigt in der ländlichen Tourraine Botendienste zwischen den einzelnen Gruppen der
Resistance.
Es ist nie geklärt worden, ob ein Corbeau im Spiel gewesen ist, als Jeanne-Marie im Frühjahr 1944 kurz vor der Landung der Alliierten an der normannischen Küste von deutschen Soldaten als Geisel genommen und mit neun weiteren Mitgliedern der Resistance ohne viel Federlesens am Wegesrand erschossen wird. Die Hinrichtung erfolgt als Rache dafür, dass ein deutscher Soldat in den Hinterhalt gelockt und getötet worden ist.
Ein Gedenkstein mit den zehn Namen der Getöteten steht heute noch zwischen zwei Platanen an der wenig befahrenen Landstraße nach Amboise.
In der Zeit darauf sieht Gilles, der in Paris keineswegs ein keusches Leben führt, seinen Sohn nur in den Ferien und gelegentlich an Wochenenden auf Noizay, wobei er darauf achtet, ohne Begleitung bei den Schwiegereltern einzutreffen Nach außen hin gibt er sich den Anschein eines guten Vaters und trauernden Witwers. Meist gehen Vater und Sohn in der Saison früh morgens, wenn noch leichter Nebel über dem feuchten Laub zwischen den Baumstämmen liegt, auf die Jagd. Eric hat sich nämlich, angeleitet von seinem Großvater, sowohl zu einem hervorragenden Kenner des Waldes und des Wildes als auch zu einem guten Schützen entwickelt.
Als Gilles Maurel ein dreiviertel Jahr vor Erics Aufnahme in die Ecole polytechnique nach Hanoi versetzt wird, verspricht der Diplomat seinem Sohn als Belohnung, falls er aufgenommen werde, eine Einladung nach Indochina und dort eine Jagdpartie im Dschungel
Auf diesem Jagdausflug werden Gilles und Eric von den Vietminh gefangen genommen, und Eric stirbt während der zweijährigen Haft im Dschungel - wie fast neunzig Prozent aller Gefangenen. »Überlebende Skelette« wird die Presse die wenigen ausgemergelten Franzosen nennen, die - wie Gilles -
nach dem Genfer Waffenstillstand für Indochina im August 1954 freigelassen werden.
Kaum einer dieser »überlebenden Skelette« vermag über das zu sprechen, was ihm widerfahren ist, und auch Gilles Maurel, dessen Haare schlohweiß ausgeblichen sind, bringt in den ersten Wochen im Sanatorium von Evian keine einzige Silbe über die Lippen. Sechs Monate später reicht er in einem kurzen Brief seinen Abschied vom Dienst
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