Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
G.M., links hatte der Künstler mit Bleistift 1/1 geschrieben. Einziges Exemplar?
Amadee überraschte Jacques, wie er über den Vogel gebeugt am Tisch stand und sagte: »Das war sein letztes Bild. Und ihm vielleicht das wichtigste. Er hat den Vogel nur zwei Mal gemalt.«
»Ein unheimliches Bild. Aber beeindruckend. Wo hat er das gelernt?«
»Das ist ihm in Evian als Therapie empfohlen worden. Er hat sich Mühe gegeben.«
»Und welcher Vogel ist das?«
»Cohe nennen wir ihn auf Martinique.«
Jacques erinnerte sich an den Moment, als er bei der Feier auf die Lichtung im Wald getreten war und ein Vogel Koohee, Koohee! gerufen hatte. »War das der Vogel, den die Kreolen fürchteten, als er bei Gilles' Beerdigung laut gekrächzt hat?«
»Ja, der Cohe versetzt uns in Angst. Seine Federn sind schwarz wie Obsidian und blutgefleckt. Und da noch niemand den nur nachts fliegenden Vogel je deutlicher wahrgenommen hat als einen Schatten, bevölkert er unser Leben wie ein Phantom. Man kann ihm nicht auflauern, er baut sich kein Nest, er legt seine Eier in den Schoß der Erde. Während bei euch der
Hund nachts heult, wenn der Tod umgeht, fürchten wir das leidvolle Rufen des Cohe. Deshalb nennen ihn unsere Zauberer auch den Vogel der Finsternis, der im Flug die Seelen der Sterbenden auffängt, um sich daran zu laben. Wenn ein Kämpfer auf dem Schlachtfeld stirbt, kann der Cohe seinen letzten Atem erhäschen und ihn seinem Meister wiederbringen. - Ich hab' die Schlüssel!«
Jacques griff wahllos zwischen das gute Dutzend Gewehre, holte ein Weatherby heraus, sagte: »Damit kann man Nashörner töten!«, und blickte in den Lauf, der gut geölt schien, roch daran, aber konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Er stellte die Waffe zurück, nahm von der Seite eine Winchester M 60, ein zuverlässiges Gewehr, auch gut geölt und auch nichts zu bemerken. Er schloss die Schranktür und verriegelte sie.
»Darf ich die Schlüssel mitnehmen? Ich werde jemanden vorbeischicken, damit er die Gewehre abholt. Ich möchte wissen, wann zuletzt damit geschossen worden ist. Wir müssen sie untersuchen. Das gehört dazu.«
Fort-de-France
Als Jacques gegen Mittag den 206 auf dem bullig heißen Betonparkplatz hinter dem Hotel in FortdeFrance in der knalligen Sonne abstellte - nirgendwo warf das Haus auch nur den kleinsten Schatten -, klebte sein durchgeschwitztes Hemd am Rücken. Ein Moped knatterte lärmend die Straße herauf, schwer beladen mit drei feixenden dicken Jungs, sonst war niemand auf der Straße. Wenn die Polizei doch wenigstens gegen diesen Unfug, den Auspuff aufzubohren, vorgehen würde, dachte er missmutig. Dann hätten die Bürger zumindest Ruhe. Zwei Nachrichten aus seinem Büro in Paris waren auf seiner Mailbox gewesen, er hatte sie abgehört, als er aus dem Funkloch um den Mont Pelee herausgekommen war, aber keine von Margaux, mit der er in der letzten Zeit die schönsten Stunden geteilt hatte. Er vermisste sie in diesem Moment sehr.
Im »Imperial« war der Empfang nicht besetzt. Jacques schaute sich um, niemand war zu sehen. Auch auf seine Rufe antwortete niemand. Als er sich hinter den Tisch des Concierge bemühte, um den Schlüssel mit dem klobigen Anhänger zu seinem Zimmer zu holen, kam ein mürrischer Mann um die Ecke.
»Was machen Sie da?«
»Den Schlüssel holen. Es ist ja niemand da.«
»Ja, die streiken wieder. Es ist zum Kotzen. Kein Wunder, dass die drei Hotels von Accor geschlossen haben. Und es werden noch mehr werden.«
»Was ist los?«
»Das Übliche. Dabei verdient hier jemand am Empfang tausend Euro und nebenan in der Dominikanischen Republik nur hundert. Aber hier sind die Angestellten muffig, dort kriegen Sie zehn für einen, und die sind auch noch fröhlich. Aber dafür
müssen sie hier kräftig streiken und demonstrieren. Die Insel geht den Bach runter.«
In seinem Zimmer genoss Jacques die kühle Luft der Klimaanlage, trank die Flasche Badois halb leer, schaltete den Laptop ein. Keine E-Mail von Margaux, auch hier nur einige Mitteilungen aus dem Büro, aber keine mit dem roten Ausrufezeichen für »dringlich«. Er klickte sie gar nicht erst an, sondern duschte ausgiebig.
Auf der Rückfahrt hatte er seinen Gedanken freien Lauf gelassen, aber es war ihm noch nicht gelungen, sie zu sortieren. Jacques warf einen Blick auf die Uhr, halb zwei, also abends um halb acht in Paris. Er rief nicht in Paris an, er wählte die Nummer von Cesaire.
»Ricou. Schon vom Mittagessen zurück?« Cesaire
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