Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
gehandelt habe. Und da werde ich mit größter Sorgfalt vorgehen. Mehr Unterstützung benötige ich nicht, inhaltlich werde ich schon zurechtkommen.«
»Es würde mir helfen, wenn Sie mich so rechtzeitig wie möglich über Ihre Entscheidung unterrichteten. Dann kann ich mich in dem einen wie in dem anderen Fall auf die entsprechenden Anfragen vorbereiten.«
Die Gerichtspräsidentin hatte nichts von ihrem diskreten Wohlwollen zurückgenommen, als sie aufstand und ihn zur Tür begleitete. So erhält man sich Freundschaften. Mit keinem Wort hatte sie ihn kritisiert, mit keinem wirklich unterstützt. Aber als sie sich mit Handschlag verabschiedete und ihm Mut wünschte, drängte sich Jacques der Eindruck auf, sie meinte Mut, sich im Zaum zu halten.
Als Jacques tags zuvor am frühen Morgen sein Gepäck aus dem Kofferraum des Taxis gehoben hatte, mit dem er vom Flughafen gekommen war, hatte er auf der Bank vor seinem Wohnhaus am Boulevard de Belleville im elften Arrondissement zahlreiche Blumensträuße in Zellophan verpackt liegen sehen, darunter einen mit Schleife, auf der stand: »Die Busfahrer der Linie 21«. Er trat näher. An der grün gestrichenen Holzlehne war mit Klebeband ein weißer Karton angebracht worden, und auf dem stand mit kräftiger Hand geschrieben: »Im Andenken an John-Kalena Senga, Bewohner und Freund des Viertels.«
Dumm, sagte sich Jacques, wirklich dumm. Das freundliche, amerikanisch ausgesprochene »Hello« von John, seine Fröhlichkeit, das weiße, gebleckte Gebiss und sein gutturales Lachen hatten ihn an manchem Tag aus einer miesen Laune gerissen - wenigstens für einen Moment. Jeder in der Straße liebte John auf seine Art, steckte ihm eine Münze zu, klopfte, ein Gespräch beginnend, eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an und ließ ihm den Rest. Die Bank war sein Zuhause gewesen, seitdem er Mitte der siebziger Jahre im Elften aufgetaucht war, also vor weit über zwanzig Jahren - und länger,
als viele hier wohnten. Johns Krücken standen an die Bank gelehnt, als wären sie ein Denkmal. In jungen Jahren hatte ihn die Kinderlähmung erwischt, aber mit Hilfe der Stöcke hatte er sich geschickt bewegt, und vielleicht hatte er die Schwäche seiner Beine mit der Stärke seines Humors wunderbar überspielt.
Jacques wendete sich um, ging zum Eingang seines Appartementhauses und drückte auf dem elektronischen Klingelbrett die vier Ziffern des Codes, die das Schloss der alten, wuchtigen Holztür aufklicken ließen. Ein paar Umschläge, Rechnungen, Bankbelege und Werbezettel lagen in seinem Briefkasten. Diese Zettel ärgerten ihn immer wieder, dabei hatte er doch groß und leserlich auf die Tür des Briefkastens geschrieben, er bäte darum, keine Werbung einzuwerfen. Er ergriff den Packen Papier, doch noch bevor er die breite, ausgetretene Steintreppe zu seiner Zweizimmerwohnung in den zweiten Stock hinaufsteigen konnte, schob die Concierge den Vorhang an ihrer Glastür zurück und stürzte aus ihrer kleinen Behausung heraus.
»Monsieur le juge, haben Sie das mitbekommen? John ist tot.« Da gab es kein Entkommen. Jacques stellte das Gepäck ab.
»Ich habe nur den Zettel und die Blumen auf der Bank geschlagen. Was ist passiert?«
»Wenn wir das nur wüssten. John ist vor drei Tagen nachts überfallen worden. Jemand hat ihm mit einem Baseballschläger auf den Kopf geschlagen. Und zwar so fest, dass das Holz dabei gebrochen ist. Aber Sie kennen ja John, der hat das weggesteckt. Am nächsten Tag ging er wie üblich um sechs Uhr in die Kirche, um mit dem Chor zu proben. Dort ist er dann plötzlich tot zusammengebrochen. Ein Notarztwagen hat ihn noch in die Klinik gebracht, aber er war nicht mehr zu retten. Und bei der Obduktion haben die Ärzte eine schwere Hirnblutung festgestellt.«
Die Concierge hatte das alles wie auswendig gelernt heruntergehaspelt, und als Jacques nicht sofort reagierte, fuhr sie fort: »Wir rechnen mit Ihnen, Monsieur le juge, in einer Stunde versammeln wir uns in der Kirche zu einem kleinen Gedenken. Sie kommen doch mit?«
Das klang wie ein Gebot. Jacques duschte, machte sich einen Kaffee, rief Martine an und erklärte ihr die Lage. Dann meldete er sich bei Margaux, die ihn zu seiner Überraschung fast stürmisch und übersprudelnd begrüßte.
»Cheri, ich steige eben aus dem Bad und hab' mir die Haare gewaschen. War' schön, wenn du mir dis Handtuch reichen könnest. Ich freue mich, dass du wieder da bist. Hab dich wirklich vermisst. Wirklich! Wann sehen wir
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