Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
uns? Kleines Mittagessen mit Siesta? Ich habe mich schon freigemacht.«
Jacques lachte, obwohl ihm gar nicht danach zu Mute war.
»Schöne Vorstellung. Aber vor heute Abend wird es wohl nichts.«
Und dann fiel ihm ein, dass er besser auch ein Kosewort einfließen ließe: »Mon choux, ich bin eben erst nach Hause gekommen und wurde unten gleich von dem Schrapnell abgefangen. Hier ist nämlich was Schreckliches passiert. John ist totgeschlagen worden.«
»Ach, du lieber Gott. Wer will denn was von John? Der hat doch nichts und tut doch niemandem was. Aber deswegen können wir uns doch sehen.«
»Nein, jetzt muss ich erst einmal mit in die Kirche zu einem Gedenken und danach dringend ins Büro. Obwohl ich viel lieber mit dir eine Siesta machen würde«, fügte er eilig hinzu, »das weißt du doch.«
So war es vor zwei Jahren, als ihre Beziehung begonnen hatte. Ein schnelles Mittagessen gefolgt von einer heftigen Siesta. Aber mittags trafen sie sich schon lange nicht mehr, spätestens seit er seine eigene Wohnung bezogen und dadurch ihrer
Beziehung einen nüchterneren Ton gegeben hatte.
e s noch nicht auf.
»Bin ich dir nicht mehr wichtig? Du kannst doch nach der Kirche kommen, wenn du da schon unbedingt hin willst. Jetzt ist es noch nicht mal neun, um zwölf bist du da doch längst wieder raus.«
»Ach, das weiß man nie. Und ich muss wirklich dringend ins Büro. Wenn ich mich da nicht bald sehen lasse, gibt's Arger, fürchte ich. Nimm's mir nicht übel, bitte. Aber ich lade dich heute Abend ein und bleib' dann bei dir.«
»Ruf mich am Nachmittag an, dann können wir ja sehen«, sagte Margaux kurz angebunden und knallte den Hörer auf. Jacques stieß einen lauten Seufzer aus und dachte an Amadee und ihren Kuss in der Dämmerung des letzten Morgens auf der Habitation Alize, ehe er in den Wagen stieg.
Trotz des Werktages kamen mehr als hundert Menschen aus der Nachbarschaft in die Kirche, ein buntes Gemisch jeden Alters: die Bedienung aus dem chinesischen Lokal, Gaston, der Patron des Bistros l'Auvergnat, einige arabische Händler vom Wochenmarkt, junge Leute, Studenten, sogar Michel Faublee, der erfolgreiche Maler, mit seiner neuen Frau und auch der zurückhaltende, sanfte Schriftsteller Bertrand Lefort.
Einer nach dem anderen ging nach vorn und erzählte von einer kleinen Begegnung, einem Erlebnis mit John. Ein Metro-Fahrleiter in Uniform nahm seine Mütze ab. Er hatte John dreiundzwanzig Jahre lang gekannt. Jede Nacht, wenn er gegen halb eins von der letzten Fahrt kam und hinter ihm das Scherengitter der Metro-Station Couronnes geschlossen worden war, hatten sie auf der grünen Bank bei einer Zigarette einen kleinen Plausch gehalten.
John hatte offenbar wenig von sich offenbart. Er scheint 45 oder 55 gewesen zu sein. Im Kongo geboren, war er von einem amerikanischen Ehepaar als Kriegswaise adoptiert worden. Viel
mehr hatte er nicht von sich preisgegeben, obwohl er von einem großen Mitteilungsbedürfnis gewesen war. Mit jedem hatte er ein kleines Gespräch begonnen und war gerade für die jungen Leute auf seiner Bank ein ruhender Pol gewesen. Alle Kinder, die an ihm vorbei zur Schule gingen, hatte er mit Namen gerufen, und sie hatten stets mit »Hallo, Kumpel!« geantwortet.
Ein junger Gemeinderat hat für John sogar einige Jahre lang Sozialhilfe abgeholt. Doch als er wegzog, hat sich niemand mehr darum gekümmert, John sowieso nicht. Weil er Tag und Nacht auf seiner Bank saß, war er im Quartier ein Hort der Sicherheit. Er sah alles, hörte alles, man konnte ihm vertrauen und schon einmal um einen kleinen persönlichen Gefallen bitten, mit dem man sich nicht an eine neugierige Concierge wenden wollte.
Nach dem Gedenken an John versammelte sich ein harter Kern der Nachbarn an der Theke des Bistros »1' Auvergnat« an der Ecke Boulevard de Belleville und Rue J. P. Timbaud. Patron Gaston, der einen auvergnatischen, lang nach außen gezwirbelten Schnurrbart trug, dessen Enden nach innen gedreht wurden, schlug vor, Geld zu sammeln für eine Gedenkplakette aus Msssing an der Bank. »John-Kalena Senga, Bürger und Freund des Viertels« sollte darauf stehen. Beim Kaffee mit Calvados gab es einen heftigen Streit um das Wort »Bürger«. Das sei John nicht gewesen, habe er nie sein wollen. »Bewohner«, wie auf dem weißen Karton, sollte es heißen. Und so wurde es beschlossen. Es kam mehr Geld zusammen als notwendig. Dafür sollte noch die Bank neu gestrichen werden.
Als Jacques bezahlte, hielt ihn Bistrowirt
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