Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
Jacques Ricou gibt der Witwe des als
Mörder verdächtigten Gilles Maurel einen Kuss auf den Mund.
Amadees Abschiedskuss.
Im Text daneben stand in vier knappen Zeilen, Ricou sei nach Martinique gefahren, um den Mörder des Generals zu suchen. Der Verdächtige sei aber gerade beerdigt worden. Dessen bildhübsche Witwe habe der Untersuchungsrichter Jacques Ricou aber »gründlich« vernommen. »Zumindest hat er auf Martinique sein Glück gefunden. Herzlichen Glückwunsch!«
Jacques' Puls begann zu rasen. Wer hatte das Foto aufnehmen können, und wer wagte es, so etwas zu drucken? Das war ein offener Verstoß gegen sein Persönlichkeitsrecht - erst recht gegen das von Amadee. Neben der Aufnahme entdeckte er den Bildhinweis: »France-Antilles«. Ob Loulou wieder dahinter steckte?
Im Büro legte ihm Martine eine lange Liste von Namen vor, alle baten um Rückruf. Den einen ging es um das Foto, den anderen um die Vorladung. Wer immer Jacques abgehört hatte, musste sein Gespräch mit Martine weitergegeben haben. Die Fotografen jedenfalls waren alarmiert gewesen und hatten den Gerichtsvollzieher schon vor dem prunkvollen Tor zum Palais de l'Elysee erwartet. Er hatte an der Seitenpforte geklingelt, war von einem Gendarmen eingelassen worden, hinterlegte, da er zum Präsidenten persönlich nicht vorgelassen wurde, die Vorladung gegen Unterschrift und war wieder verschwunden. Und dann meldeten sich Kommissar Jean - und Margaux.
»Die hat schon zwei Mal angerufen«, sagte Martine. »Sie hätte dich gestern Abend zu Hause nicht erreichen können, und auf dem Handy hatte sie kein Glück gehabt.«
Jacques setzte für den Mittag eine Pressekonferenz an, bei der er nur bestätigte, dass die Vorladung übergeben worden sei. Nein, eine Antwort des Bürgers aus der rue du Faubourg-Saint-Honore gebe es noch nicht. Fragen zu dem Foto ließ er nicht zu.
Kommissar Mahon schickte ihm per Fax einen kurzen,
anonym verfassten Bericht über das Wochenende von Senator de Mangeville, der keine politischen Termine wahrgenommen, sondern mit einer größeren Gästeschar im Schloss des Barons de Seine gefeiert hatte - ohne seine Frau, die mit den Kindern in Megeve die Skiferien verbrachte, aber mit Margaux. Noch ehe Jacques sich darüber aufregen konnte, bestellte die Gerichtspräsidentin ihn zu sich.
Sie kam ihm auch diesmal entgegen, setzte sich wieder mit dem Rücken zum Fenster und forderte ihn mit steinernem Gesicht auf, spätestens am nächsten Morgen einen Bericht vorzulegen, der einwandfrei sein Verhalten auf dem Foto erkläre. Der Staatspräsident wolle, wie es ihm sein Amt ermögliche, beantragen, dass der Hohe Rat der Magistratur Jacques' Verhalten untersuche.
Aus Lyon rief Untersuchungsrichter Claude Mancel an, mit dem Jacques, wie sie schnell herausfanden, gemeinsam studiert hatte. Mancel hatte die Ruhe weg, die Pariser Aufgeregtheiten schienen sich auf den fünfhundert Kilometern bis an die Rhone zu verlieren. Den Fall Bonfort habe er geerbt, sagte er, aber da sei nichts mehr drin, der sei doch uralt, und es gebe so viele Unterlagen, die könne Jacques nicht einmal in einer Woche durchsehen. Er solle doch einfach mal kommen, könne bei ihm wohnen, in der schönen Altstadt, gleich neben dem Restaurant »La Tour Rose«, das aber für sie zu teuer sei.
»Meld dich einfach«, schloss der Lyoneser seine Suada, Jacques' Gedanken waren ganz woanders.
»Margaux ist am Apparat«, meldete ihm Martine.
»Ich nehme heute keine Gespräche mehr an!«, sagte er knapp.
Und dann saß er an dem Bericht für die Gerichtspräsidentin. Wie sollte er dieses Foto erklären?
Bis spät in die Nacht feilte er an dem Text, den er so knapp wie nur möglich hielt, nach dem Motto, je kürzer, desto weniger gibt es zu interpretieren. Was den Ablauf seiner Ermittlung auf
der Habitation Alize betraf, blieb er ziemlich nah an der Wahrheit, die intime Umarmung im Bett, an die sich Jacques mit Sehnsucht erinnerte, verschwieg er, und er erklärte den Kuss genau so, wie er ihn empfangen hatte: völlig überrascht.
*
Der Bürger mit der Adresse 55, rue du Faubourg-Saint-Honore, ließ durch die Pressesprecherin des Elysee-Palastes erklären, der Staatspräsident werde der Vorladung des Untersuchungsrichters Jacques Ricou nicht Folge leisten und sich seine Entscheidung vom Verfassungsrat bestätigen lassen. Außerdem werde sich der Hohe Rat der Magistratur mit der Frage befassen, ob der Untersuchungsrichter Jacques Ricou während seiner Ermittlungen, den Mord
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