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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Gesundheit!«
    Die zwei Männer tranken ihre Gläser leer; der Mann im Kaftan schenkte neuen Wodka ein und sagte, indem sich seine Augen zu zwei funkelnden Schlitzen zusammenzogen: »Was willst du von mir, Kommissar Bärlach?«
    »Kommissär«, verbesserte der Alte.
    »Kommissar«, behauptete der Jude.
    »Ich möchte eine Auskunft«, sagte Bärlach.
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    »Eine Auskunft ist gut«, lachte der Riese. »Sie ist Goldes wert, eine solide Auskunft. Gulliver weiß mehr als die Polizei.«
    »Das werden wir sehen. Du bist in allen Konzentrationslagern gewesen, das hast du mir gegen-
    über einmal erwähnt. Du erzählst ja sonst wenig von dir«, sagte Bärlach.
    Der Jude füllte die Gläser. »Man hat meine Person einmal so überaus wichtig genommen, daß man mich von einer Hölle in die andere schleppte, und es gab deren mehr als die neun, von denen Dante singt, der in keiner war. Von jeder habe ich tüchtige Narben mit in mein Leben nach dem Tode gebracht.« Er streckte seine linke Hand aus. Sie war verkrüppelt.
    »So kennst du vielleicht einen Arzt der SS namens Nehle?« fragte der Alte gespannt.
    Der Jude schaute einen Augenblick lang nachdenklich auf den Kommissär. »Meinst du den vom Lager Stutthof?« fragte er dann.
    »Den«, antwortete Bärlach.
    Der Riese sah den Alten spöttisch an. »Der hat sich am zehnten August fünfundvierzig in Hamburg in einem armseligen Hotel das Leben genommen«, sagte er nach einer Weile.
    Bärlach dachte etwas enttäuscht: »Gulliver weiß einen Dreck mehr als die Polizei«, und er sagte:
    »Bist du jemals in deiner Laufbahn — oder wie man das schon nennen soll — Nehle begegnet?«
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    Der zerlumpte Jude sah den Kommissär erneut prüfend an, und sein narbenüberdecktes Antlitz verzog sich zu einer Grimasse. »Was fragst du nach dieser ausgefallenen Bestie?« erwiderte er dann.
    Bärlach überlegte, wie weit er sich dem Juden eröffnen sollte, beschloß jedoch, zu schweigen und den Verdacht, den er gegen Emmenberger gefaßt hatte, bei sich zu behalten.
    »Ich sah sein Bild«, sagte er deshalb, »und es in -
    teressiert mich, was aus so einem geworden ist. Ich bin ein kranker Mann, Gulliver, und muß noch lange liegen, immer Möllere lesen geht auch nicht, da hängt man eben seinen Gedanken nach. So nimmt es mich denn wunder, was ein Massenmörder wohl für ein Mensch ist.«
    »Alle Menschen sind gleich. Nehle war ein Mensch. Also war Nehle wie alle Menschen. Das ist ein perfider Syllogismus, doch kann niemand gegen ihn aufkommen«, antwortete der Riese und ließ Bärlach nicht aus den Augen. Nichts in seinem mächtigen Gesicht verriet, was er denken mochte.
    »Ich nehme an, du wirst Nehles Bild im Life gesehen haben, Kommissar«, fuhr der Jude fort. »Es ist das einzige Bild, das von ihm existiert. Sosehr man suchte auf dieser schönen Welt, nie ist ein anderes zum Vorschein gekommen. Das ist um so peinlicher, als ja auf dem berühmten Bilde 189
    nicht viel von diesem sagenhaften Folterknecht zu erkennen ist.«
    »Nur ein Bild gibt es also«, sagte Bärlach nachdenklich. »Wie ist das möglich?«
    »Der Teufel sorgt für die Auserwählten seiner Gemeinde besser, als es der Himmel für die seinen tut, und ließ verschiedene Umstände zusammen-kommen«, antwortete der Jude spöttisch. »In der Liste der SS, wie sie jetzt zum Gebrauch der Kri-minalogie in Nürnberg aufbewahrt wird, ist Nehle nicht eingetragen, sein Name befindet sich auch nicht in einem anderen Verzeichnis; er wird der SS
    nicht angehört haben. Die offiziellen Berichte aus dem Lager Stutthof an das S S-Führerhauptquartier erwähnen seinen Namen nie, auch in den
    beigelegten Tabellen über den Stand des Personals ist er unterschlagen. Es haftet dieser Gestalt, die ungezählte Opfer auf dem ruhigen Gewissen hat, etwas Legendenhaftes und Illegales an, als ob sic h auch die Nazis ihrer geschämt hätten. Und doch lebte Nehle, und niemand hat je gezweifelt, daß er existiert, nicht einmal die ausgekochtesten Atheisten; denn an einen Gott, der die teuflischsten Qualen ausheckt, glaubt man am schnellsten. So haben wir denn dazumal in den Konzentrationslagern, die Stutthof gewiß in nichts nachstan-den, immer von ihm gesprochen, wenn auch mehr wie von einem Gerücht als von einem der bösesten und unbarmherzigsten Engel in diesem
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    Paradies der Richter und Henker. Das wurde auch nicht besser, als sich der Nebel zu lichten begann.
    Vorn Lager selbst war niemand mehr vorhanden, den man hätte ausfragen können. Stutthof

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