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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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auf, Hände, die Zeitungen umklammerten, alles phantastisch im silbernen Licht, vorüberziehend, versinkend. Zum erstenmal seit seiner Krankheit kam sich Bärlach als einer vor, dessen Zeit vorbei war, der die Schlacht mit dem Tode, diese unabänderliche Schlacht, verloren hatte. Der Grund, der ihn unwiderstehlich nach Zürich trieb, dieser mit zäher Energie ausgebaute und doch wieder nur zufällig in den müden Wellen der Krankheit zusammengeträumte Verdacht, schien ihm nichtig und wertlos; was sollte man sich noch abmühen, wozu, weshalb? Er sehnte sich nach
    einem Zurücksinken, nach endlosem,
    traumlosen Schlaf. Hungertobel fluchte innerlich, er spürte die Resignation des Alten hinter sich und machte sich Vorwürfe, dem Abenteuer nicht Einhalt geboten zu haben. Die unbestimmte nächtliche Fläche des
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    Sees flutete ihnen entgegen, der Wagen glitt langsam über die Brücke. Ein Verkehrspolizist tauchte auf, ein Automat, der mechanisch die Arme und Beine bewegte. Bärlach dachte flüchtig an Fortschig (an den unseligen Fortschig, der jetzt in Bern, in einer schmutzigen Dachkammer, mit fiebriger Hand das Pamphlet schrieb), dann verlor er auch diesen Halt. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen, Die Müdigkeit wurde
    gespenstischer, gewaltiger in ihm.
    »Man stirbt«, dachte er; »einmal stirbt man, in einem Jahr, wie die Städte, die Völker und die Kontinente einmal sterben. Krepieren«, dachte er,
    »dies ist das Wort: krepieren — und die Erde wird sich immer noch um die Sonne drehen, in der immer gleichen unmerklich schwankenden Bahn, stur und unerbittlich, in rasendem und doch so stillem Lauf, immer zu, immer zu. Was liegt daran, ob diese Stadt hier lebt oder ob die graue, wäßrige, leblose Fläche alles zudeckt, die Häuser, die Türme, die Lichter, die Menschen — waren es die bleiernen Wogen des Toten Meeres, die ich durch die Dunkelheit von Regen und Schnee schwimmen sah, als wir über die Brücke fuhren?«
    Ihm wurde kalt. Die Kälte des Weltalls, diese nur von ferne erahnte, große, steinige Kälte senkte sich auf ihn; die flüchtige Spur eine Sekunde lang, eine Ewigkeit lang.
    Er öffnete die Augen und starrte aufs neue hin -
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    aus. Das Schauspielhaus tauchte auf, verschwand.
    Der Alte sah vorne seinen Freund; die Ruhe des Arztes, diese gütige Ruhe tat ihm wohl (er ahnte nicht dessen Unbehagen). Vom Anhauch des
    Nichts gestreift, wurde er wieder wach und tapfer.
    Bei der Universität bogen sie nach rechts, die Straße stieg, wurde dunkler, eine Kurve schloß sich an die andere, der Alte ließ sich treiben, hell, aufmerksam, unerschütterlich.

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    Der Zwerg
    Hungertobels Wagen hielt in einem Park, dessen Tannen unmerklich in den Wald übergehen muß-
    ten, wie Bärlach vermutete; denn er konnte den Waldrand, der den Horizont abschloß, nur ahnen.
    Hier oben schneite es nun in großen, reinen Flok-ken; durch den fallenden Schnee erblickte der Alte undeutlich die Front des langgestreckten Spitals.
    Das hellerleuchtete Portal, in dessen Nähe der Wagen stand, war tief in die Front eingelassen und von zwei Fenstern flankiert, die kunstvoll vergittert waren und von denen aus man das Portal
    überwachen konnte, wie der Kommissär dachte.
    Hungertobel steckte schweigend eine »Little-Rose«
    in Brand, verließ den Wagen und verschwand im Eingang. Der Alte war allein. Er beugte sich vor und überschaute das Gebäude, soweit dies in der Dunkelheit möglich war. »Der Sonnenstein«, dachte er, »die Wirklichkeit.« Der Schnee fiel dichter, kein einziges der vielen Fenster war erleuchtet, nur manchmal flackerte durch die fallenden Massen ein undeutlicher Schein; wie 241
    tot lag der weiße,, gläserne, modern konstruierte Komplex vor ihm. Der Alte wurde unruhig, Hungertobel schien nicht zurückkehren zu wollen; er schaute auf die Uhr, es mußte jedoch kaum eine Minute vergangen sein. »Ich bin nervös«, dachte er und lehnte sich zurück, in der Absicht, die Augen zu schließen.
    Da fiel Bärlachs Blick durch die Wagenscheibe, an der außen der geschmolzene Schnee in breiten Spuren hinunterlief, auf eine Gestalt, die im Gitter des Fensters hing, das sich links vom Spitaleingang befand. Zuerst glaubte er einen Affen zu sehen, dann aber erkannte er erstaunt, daß es ein Zwerg war, einer, wie man ihn bisweilen im Zirkus zur Belustigung des Publikums antrifft. Die kleinen Hände und Füße waren nackt und umklammerten nach Affenart das Gitter, während sich der riesenhafte Schädel dem Kommissär

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