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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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zuwandte. Es war ein zusammengeschrumpftes, uraltes Gesicht von einer bestialischen Häßlichkeit, mit tiefen Rissen und Falten, entwürdigt von der Natur selbst, das den Alten mit großen, dunklen Augen
    anglotzte, unbeweglich wie ein verwitterter, moosüberwachsener Stein. Der Kommissär beugte sich vor und preßte sein Gesicht gegen die nasse Scheibe, um besser, genauer zu sehen, doch schon war der Zwerg verschwunden, mit einem
    katzenhaften Sprung rückwärts ins Zimmer, wie es schien; das Fenster war leer und dunkel. Nun kam 242
    Hungertobel und hinter ihm zwei Schwestern, doppelt weiß in diesem unaufhörlichen Schneetrei-ben. Der Arzt öffnete den Wagen und erschrak, als er Bärlachs bleiches Gesicht bemerkte.
    Was mit ihm los sei, flüsterte er.
    Nichts, gab der Alte zur Antwort. Er müsse sich nur an dieses moderne Gebäude gewöhnen. Die Wirklichkeit sei doch immer wieder ein wenig anders, als man so glaube.
    Hungertobel spürte, daß der Alte etwas verschwieg, und blickte mißtrauisch nach ihm.
    »Nun«, entgegnete er, leise wie vorhin, »es wäre soweit.«
    Ob er Emmenberger gesehen habe, flüsterte der Kommissär.
    Er habe mit ihm gesprochen, berichtete Hungertobel. »Es ist kein Zweifel möglich, Hans, daß er es ist. Ich habe mich in Ascona nicht getäuscht.«
    Die beiden schwiegen. Draußen warteten, schon etwas ungeduldig, die Schwestern.
    »Wir jagen einem Phantom nach«, dachte Hungertobel. »Emmenberger ist ein harmloser Arzt, und dieses Spital ist eines wie andere auch, nur kostspieliger.«
    Hinten im Wagen, in dem nun fast undurch-
    dringlichen Schatten, saß der Kommissär und wußte genau, was Hungertobel dachte.
    »Wann wird er mich untersuchen?« fragte er.
    »Jetzt«, antwortete Hungertobel.
    Der Arzt spürte, wie der Alte munter wurde.
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    »Dann nimm hier Abschied von mir, Samuel«, sagte Bärlach, »du kannst dich nicht verstellen, und man darf nicht wissen, daß wir Freunde sind. Von diesem ersten Verhör wird viel abhängen.«
    »Verhör?« wunderte sich Hungertobel.
    »Was denn sonst?« antwortete der Kommissär spöttisch. »Emmenberger wird mich untersuchen und ich ihn vernehmen.«
    Sie reichten einander die Hand.
    Die Schwestern kamen. Nun waren es vier. Der Alte wurde auf einen Rollwagen von blitzendem Metall gehoben. Zurücksinkend sah er noch, wie Hungertobel den Koffer herausgab. Dann blickte der Alte hinauf, in eine schwarze, leere Fläche, von der die Flocken herunterschwebten in leisen, unbegreiflichen Wirbeln, wie tanzend, wie versinkend, im Licht aufleuchtend, um einen Augenblick naß und kalt sein Gesicht zu berühren. »Der Schnee wird nicht lange halten«, dachte er. Das Rollbett wurde durch den Eingang geschoben, von draußen hörte er noch, wie sich Hungertobels Wagen entfernte. »Er fährt, er fährt«, sagte er leise vor sich hin. Über dem Alten wölbte sich eine weiße, blitzende Decke, von großen Spiegeln unterbrochen, in denen er sich sah, ausgestreckt und hilflos; ohne Erschütterung und ohne Ge räusch glitt der Wagen durch geheimnisvolle Korridore, nicht einmal die Schritte der Schwestern waren zu hören. An den gleißenden Wänden zu
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    beiden Seiten klebten schwarze Ziffern, unsichtbar waren die Türen in das Weiß eingefügt, in einer Nische dämmerte der nackte feste Leib einer Statue. Von neuem nahm Bärlach die sanfte und doch grausame Welt eines Spitals auf.
    Und hinter ihm das rote, dicke Gesicht einer Krankenschwester, die den Wagen schob.
    Der Alte hatte wieder die Hände hinter seinem Nacken verschränkt.
    »Gibt es hier einen Zwerg?« fragte er auf hochdeutsch, denn er hat sich als einen Auslandsschweizer anmelden lassen.
    Die Krankenschwester lachte. »Aber Herr Kramer«, sagte sie, »wie kommen Sie auf eine solche Idee?«
    Sie sprach ein schweizerisch gefärbtes Hochdeutsch, aus dem er schließen konnte, daß sie eine Bernerin war. Sosehr ihn die Antwort mißtrauisch machte, so schien ihm dies dann doch wieder etwas Positives. Er war hier wenigstens unter Bernern.
    Und er fragte: »Wie heißen Sie denn, Schwester?«
    »Ich bin die Schwester Kläri.«
    »Aus Bern, nicht wahr?«
    »Aus Biglen, Herr Kramer.«
    Die werde er bearbeiten, dachte der Kommissär.

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    Das Verhör
    Bärlach, den die Schwester in einen, wie es auf den ersten Blick schien, gläsernen Raum schob, der sich in gleißender Helle vor ihm auftat, erblickte zwei Gestalten: leicht gebückt, hager die eine, ein Weltmann auch im Berufsmantel, mit dicker Hornbrille, die jedoch

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