Der Richter und sein Henker (German Edition)
Personen umzubringen, um unentdeckt zu bleiben, denn Bärlach hat nicht einmal an den üblichen Trick gedacht, ein versiegeltes Kuvert zu hinterlegen, das – wenn er nichts von sich hören läßt – an einem bestimmten Datum der Polizei übergeben wird. Er hätte auch einfach mit jemandem ein tägliches Telefongespräch vereinbaren können, der dann, wenn Bärlach nicht an den Apparat gekommen wäre, sofort die Polizei alarmiert hätte.
Aber der Inspektor geht blind in die Falle: die Zeitungen bringen anläßlich seiner Pensionierung ein Bild von ihm, Emmenberger weiß also, wer sein Patient ist; Fortschig veröffentlicht einen Artikel, den niemand ernst nimmt, und schon ist es soweit: der Journalist stirbt – angeblich an einem Herzschlag, und Bärlach befindet sich in einem vergitterten Operationsraum. Der Tod Hungertobels ist geplant, Emmenbergers Chancen, davonzukommen, sind fast hundertprozentig. Und nun geht es zu wie in Edgar Allan Poes The Pit and the Pendulum: Bärlach sieht eine ganze Nacht lang den Uhrzeigern zu, denn um sieben Uhr soll er ohne Narkose operiert, das heißt getötet werden. Die Spannung ist zwar groß, im übrigen wird aber über Leben und Tod, Gut und Böse, Glauben, Gott und Gerechtigkeit meditiert.
Dürrenmatt geht es in erster Linie um eine Analyse des Nihilisten und Existentialisten Emmenberger. Man muß ihn mit dem sadistischen Gott der Frühwerke vergleichen: auch der Arzt genießt es, andere foltern zu können; es gibt ihm ein Gefühl der Macht. Der Jude, der Bärlach schließlich rettet, unterscheidet zwei Kategorien von Menschen: Peiniger und Gepeinigte. Emmenberger gehört zur ersten. Die Ärztin Edith Marlok, die Emmenberger mit Hilfe von Rauschgift an sich gekettet hat, nennt ihren eigenen Geliebten einen »Folterknecht«. Sie hätte es in der Hand, sich an ihm zu rächen, tut es aber nicht:
»Unser Lehrsatz vom Kampf gegen das Böse, der nie, unter keinen Umständen und unter keinen Verhältnissen aufgegeben werden darf, stimmt im luftleeren Raum oder, was dasselbe ist, auf dem Schreibtisch; aber nicht auf dem Planeten, auf dem wir durch das Weltall rasen wie die Hexen auf einem Besen.«
Höhepunkt des Romans sind die beiden Gespräche Bärlachs mit Edith Marlok und mit Emmenberger. Die beiden Ärzte denken – im wahrsten Sinne des Wortes – Dürrenmatts Gedanken. Sie denken und handeln völlig konsequent – mit entsetzlichen Resultaten. Dürrenmatt lehnt ihre Taten ab, aber er respektiert die Philosophie, welche die Taten motiviert. Bärlach hat – wie Dürrenmatt – dieser Philosophie nichts entgegenzusetzen, keinen Glauben; es bleibt ihm ehrlicherweise nur das Schweigen. Oder er kann – mit dem Juden – schreien: »Es lebe der Mensch!« und hinzufügen: »Aber wie?« Das ist die wahre Situation des Menschen:
»Da werden wir, ohne gefragt zu werden, auf irgendeine brüchige Scholle gesetzt, wir wissen nicht wozu; da stieren wir in ein Weltall hinein, ungeheuer an Leere und ungeheuer an Fülle, eine sinnlose Verschwendung, und da treiben wir den fernen Katarakten entgegen, die einmal kommen müssen – das einzige, was wir wissen. So leben wir, um zu sterben, so atmen und sprechen wir, so lieben wir, und so haben wir Kinder und Kindeskinder, um mit ihnen, die wir lieben und die wir aus unserem Fleische hervorgebracht haben, in Aas verwandelt zu werden, um in die gleichgültigen, toten Elemente zu zerfallen, aus denen wir zusammengesetzt sind.«
So spricht nicht nur Edith Marlok, sondern auch Dürrenmatt selbst.
Dürrenmatt hat sich immer wieder dagegen gewehrt, ein Nihilist genannt zu werden. Auch Emmenberger wehrt sich dagegen:
»Alles, was man unternimmt, die Taten und Untaten, geschieht auf gut Glück hin, das Böse und das Gute fällt einem wie bei einer Lotterie als Zufallslos in den Schoß; aus Zufall wird man recht und aus Zufall schlecht. Aber mit dem großen Wort Nihilist ist man gleich zur Hand, das wirft man jedem anderen, bei dem man etwas Bedrohliches wittert, mit großer Pose und mit noch größerer Überzeugung an den Kopf.«
Darauf gibt Emmenberger sein Credo zum besten. Er glaubt erstens an die Materie und zweitens, »daß ich bin, als ein Teil dieser Materie, Atom, Kraft, Masse, Molekül wie Sie, und daß mir meine Existenz das Recht gibt, zu tun, was ich will.« Alles ist unwesentlich, alles austauschbar, »es ist gleichgültig, ob die Dinge sind oder nicht sind«. Materie kann nicht gerecht sein, es gibt also keine Gerechtigkeit. Bärlach
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