Der Richter und sein Henker (German Edition)
Widerstandsfährigkeit, die sie [die Menschen] ihren Impulsen entgegenzusetzen haben, ist abnorm gering, es braucht verdammt wenig, etwas geänderter Stoffwechsel, einige degenerierte Zellen, und der Mensch ist ein Tier.
Die Erzählung Die Panne (1956) liegt auch als Hörspiel vor. Sie illustriert einen Abschnitt aus dem Verdacht:
Überhaupt gebe es einen ganzen Haufen Verbrechen, die man nicht beachte, nur weil sie etwas ästhetischer seien als so ein ins Auge springender Mord, der überdies noch in die Zeitung komme, die aber beide aufs gleiche hinausliefen, wenn man’s genau nehme und die Phantasie habe. Die Phantasie, das sei es eben, die Phantasie! Aus lauter Phantasiemangel begehe ein braver Geschäftsmann zwischen dem Aperitif und dem Mittagessen oft mit irgendeinem gerissenen Geschäft ein Verbrechen, das kein Mensch ahne und der Geschäftsmann am wenigsten, weil niemand die Phantasie besitze, es zu sehen.
Traps ist ein solcher Phantasieloser, der mitschuldig am Tode seines Vorgesetzten ist, ohne es zu wissen. Max Frischs Biedermann ist ein anderer, dem es an der Phantasie mangelt, einzusehen, daß er für den Tod Knechtlings verantwortlich ist. Das groteske Gericht in der Panne bringt Traps seine Schuld zum Bewußtsein. In der Hörspielversion vergißt er schon am folgenden Tag wieder, was er nicht wissen will, und bereitet sich auf das nächste Verbrechen vor; in der Erzählung jedoch richtet er sich selbst.
Die Panne erinnert in vielem an Kafkas Prozeß, besonders in der Prosaversion. Während bei Kafka das Gericht und die Schuld nicht deutlich werden, vielleicht theologisch interpretiert werden müssen, geht es bei Dürrenmatt äußerst realistisch – wenn auch im Detail grotesk – zu. Das Einleitungskapitel ist nicht direkt erzählend: es ist eine Meditation über die Möglichkeiten des Schriftstellers in der modernen Welt. Was gibt es noch zu tun, wenn man nicht über sein privates Ich schreiben will, wenn sich vor lauter Planung das Schicksal in die Kulissen verzogen hat, wenn im Angesicht der Atombombe und des Computers der Untergang jeden Augenblick – als Folge einer mechanischen Panne – eintreten kann? Es drohen »kein Gott mehr, keine Gerechtigkeit, kein Fatum«, sondern Unfälle wie die »Explosion einer Atomfabrik, hervorgerufen durch einen zerstreuten Laboranten«. Diese Überlegungen haben mit der Erzählung insofern etwas zu tun, als sie die Entlarvung von Traps und dessen Schuld ironisch bagatellisieren.
Moralität am Rand der Amoral
von Walter Jens
Nehmen wir an, es käme eines Abends, im Londoner East End zum Beispiel oder am Quai des Orfèvres, in einer schäbigen New Yorker Kanzlei oder, auch das wäre möglich, in einem kalifornischen Schlemmerlokal zu einer Begegnung der genialsten Detektive aller Zeiten und Literaturen: Sherlock Holmes hielte eines seiner berühmten Stegreif-Kollegs; Hercule Poirot, der belgische Kriminalist mit den kleinen grauen Zellen, brächte durch sein unkonventionelles Englisch die Kollegin aus dem Amateurlager, Miss Marple, zur Verzweiflung; Kommissar Maigret sinnierte über das Thema »Verbrechen und Katholizität«; Nero Wolfe bestellte den sechsten Gang Mousse au chocolat; und Sam Spade, der Held Dashiell Hammetts, zählte die Cents in seiner Tasche (woher das Souper bezahlen? wen anpumpen?) – da, plötzlich, öffnete sich (so nehmen wir an) die Tür, und herein träte ein zigarrenrauchender vierschrötiger Mann, Berndütsch redend, schon ein wenig angekneipt, eher Spottfigur als kaltschnäuziger Spürhund, ein bißchen lächerlich auf jeden Fall inmitten der Lebenskünstler und grandiosen Originale, der Denker und Schnorrer um ihn herum.
Aber wenn er dann, der Bärlach Friedrich Dürrenmatts, zu reden anfinge! Geschichten erzählte! Wenn er, hier ins Hochdeutsche, dort ins Türkische fallend (Bärlach war lange in Konstantinopel), ins Philosophieren geriete und über Schicksal und Zufall, Gesetz und Aberwitz – sein Lieblingsthema – philosophierte: Wie still, mäuschenstill, würde es dann; wie würden sie lauschen, die Geschöpfe der Poe und Simenon und Agatha Christie!
Dürrenmatts Bärlach (Vorname: Hans) – das ist die große Ausnahme unter den Meistern der Kriminalliteratur. Eine Gestalt, die, hierin (aber nur hierin) Miss Marple ein wenig verwandt, gern den Tolpatsch herauskehrt, den bramarbasierenden, ungeschliffenen, polternden Mann aus dem Volk, um derart nicht nur die großen und kleinen Verbrecher, sondern auch die
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